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THE BULGARIAN VOICES "ANGELITE" FEAT. HUUN-HUUR-TU & SERGEY STAROSTIN – Fly, Fly My Sadness ('96)

Dieses bereits 1996 erschienene Album stammt von einem Projekt, welches vom Musiker Michail Alperin, Mitglied des MOSCOW ART TRIO, initiiert wurde. Hauptbeteiligte an der praktischen musikalischen Umsetzung sind der 24köpfige bulgarische Frauenchor THE BULGARIAN VOICES "ANGELITE", der früher unter der Bezeichnung Le Mystère Des Voix Bulgares firmierte, sowie HUUN-HUUR-TU, vier Ober-ton-/Kehlkopfsänger und Musiker aus Tuva, einer Republik der ehemaligen UDSSR an der Grenze zur Mongolei. Der russische Musiker Sergey Starostin, ebenfalls Mitglied des MOSCOW ART TRIO, wirkt nur bei einem Song als Sänger mit.

Die fünf zwischen 7 und 11 Minuten langen Stücke basieren auf traditionellen Songs aus Tuva, Bulgarien und Russland, ihre Arrangements stammen alle von Michail Alperin.

Das erste Stück "Fly, Fly My Sadness" beginnt mit den Klängen tuvinischer Streichinstrumente, die etwas an den Klang einer Geige erinnern. Über diesem bis zum Songende beibehaltenen "Grundgerüst" setzt zunächst einer der Sänger von HUUN-HUUR-TU mit einer schon recht fremdartig klingenden Stimme ein. Zu dem relativ gleichbleibenden Klang der Streichinstrumente und des Gesangs kann man sich gut eine endlos weit erscheinende und fast menschenleere Steppenlandschaft vorstellen. Dann wird der Obertonsänger von einer Solistin des bulgarischen Frauenchores abgelöst, deren Gesangsstil zumindest in den Ohren derjenigen, die bislang noch keinerlei Kontakt mit den Vokalwerken dieses Chores hatten, auch recht fremd klingen wird. Die Solistin wechselt sich mit dem Sänger noch einige Male ab, bevor dann beide zweistimmig und auch mit dezenter Unterstützung des Chores singen. Gegen Ende des Stückes ist schließlich noch ein weiterer Ober-tonsänger zu hören, dessen Stimme sehr "gepreßt" klingt.

Den zweiten Song "Legend" – zugleich mein Lieblingsstück auf diesem Album – bezeichnet Michail Alperin in den Erläuterungen nicht ganz ernst gemeint als "Eastern Heavy Metal". Nun, bei Einsetzen des Obertongesanges gleich zu Beginn des Stückes könnte man meinen, hier hätten sich ein paar Death Metal-Sänger zusammengefunden, jedenfalls was die Tiefe der Stimmen betrifft. Die Gesangstechnik ist natürlich eine andere und der Gesang klingt hier auch "sauberer". Richtig geil wird es, wenn der Frauenchor einsetzt, während HUUN-HUUR-TU im Kontrast dazu gleichzeitig fast durchgehend auf einem sehr tiefen Ton verharren. Es ist schon beeindruckend, was diese Stimmen an "Power" zu bieten haben und welche Atmosphäre sie zu erzeugen vermögen! Der Chorgesang klingt hier, als befände man sich in einer sehr großen Halle. Gegen Ende ist nach einem kleinen ruhigen Melodica-Zwischenspiel von Michael Alperin noch mal der Frauenchor allein zu hören und läßt des Stück schließlich sanft ausklingen.

Das dritte Stück "Wave" ist nach meiner Ansicht das schwierigste. Es handelt sich dabei laut Anmerkung um eine reine Improvisation über nur 2-3 Töne. Das musikalische "Grundgerüst" liefert hier der Frauenchor, dessen Gesang nach leisem Beginn abwechselnd immer stärker an- und dann wieder abschwillt, so daß eine akustische Wellenbewegung entsteht. Ein Teil des Chores erzeugt dabei ein regelrechtes Schwirren, so daß man fast meinen könnte, ein Schwarm Insekten schwirre einem mal näher und dann wieder weiter entfernt um die Ohren. Über dieser akustischen Wellenbewgung kommt dann im mittleren Teil Sergey Starostin als Solist zum Einsatz.

Das vierte Stück "Lonely Bird" beginnt mit einem in "normaler" Stimmlage gesungenen Intro eines der Mit-glieder von HUUN-HUUR-TU, bevor diese gemeinsam einsetzen und wieder in sehr tiefer Lage durchgehend (und alle 15-20 Sekunden neu ansetzend) auf einem Ton verharren. Darüber singt dann zunächst eine weibliche Solostimme und langsam setzt schließlich (sozusagen als dritte Stimme) der ganze Frauenchor ein. Die Solistin wird zwischendurch noch mal von einem Obertonsänger in "normaler" Stimmlage abgelöst. Auch der Chor verstummt zwischendurch immer mal wieder. Das Stück klingt schließlich fast so aus, wie es begonnen hat.

Der letzte Song "Mountain Story" beginnt mit einem ca. zweiminütigen Melodica-Intro. Dann setzen dazu HUUN-HUUR-TU zunächst mit ihren Streichinstrumenten und anschließend auch mit ihrem Gesang ein. Ein immer wieder auftauchendes Pfeifen wird hier nicht, wie man meinen könnte, von einem besonderen Instru-ment erzeugt, sondern es handelt sich dabei, wie den Anmerkungen zu entnehmen ist, um eine bestimmte Art des Obertongesanges, bei dem eine menschliche Stimme neben einer tiefe Stimme gleichzeitig eine sehr hohe erzeugt, die wie eine Pfeife oder Flöte klingt. Schließlich ist dann auch bei diesem Stück wieder der ganze Frauenchor zu hören. Zwischendurch vernimmt man immer wieder mal die Melodica, die das Stück dann auch alleine ausklingen läßt.

Insgesamt ist festzuhalten, daß man auf dieser Platte sicher nicht "easy", sondern eher "difficult listening music" geboten bekommt. Zwar klingen die Stücke nicht besonders kompliziert, aber für die meisten Hörer sicherlich sehr fremd und dürften so manchem vielleicht nicht quer im Magen, aber doch quer in den Ohren liegen. Ich persönlich finde das musikalische Ergebnis dieses ungewöhnlichen Projektes durchaus gelungen, wenngleich ich mir die Platte auch nicht bei jeder Gelegenheit anhöre. Die Stücke leben in erster Linie von der Atmosphäre, von den Gegensätzen zwischen laut und leise sowie hohen und tiefen Stimmen, und klingen sehr archaisch. Auffallend ist noch, daß bei den Songs einzelne Töne oft sehr lange gehalten werden, was der Musik bzw. dem Gesang auch einen gewissen meditativen Charakter verleiht.

Das CD-Booklet enthält sehr ausführliche und lesenswerte Informationen über die Entstehungsgeschichte und die Beteiligten dieses Projektes, die vielleicht ein noch besseres Verständnis dieser Platte ermöglichen als diese Besprechung. Naja, vielleicht stolpert ja doch mal irgendjemand über diese Rezension, dessen Neugier ich wecken konnte und der mit dieser doch recht ungewöhnlichen und ganz gewiß originellen Musik auch etwas anfangen kann. Weitere Informationen über dieses Projekt sowie die Alben der daran beteiligten Gruppen findet man unter www.jaro.de.

Unter der Bezeichnung THE BULGARIAN VOICES "ANGELITE" & MOSCOW ART TRIO with HUUN-HUUR-TU ist von diesem Projekt 1998 noch ein zweites Album mit dem Titel "Mountain Tale" erschienen. Bei dieser Platte wirkt nun das MOSCOW ART TRIO vollständig mit und es kommen bei einigen Songs auch Piano, Hörner und Klarinette zum Einsatz. Die in fast allen denkbaren Kombinationen der drei Gruppen eingespielten 10 Songs sind auf diesem Album, abgesehen vom 12minütigen "Grand Finale" und dem ca. 7minütigen Klanggemälde "Mountain Fairy-tale", bei dem man sich wie auf einer Kuhweide vorkommt, mit meist 3-4 Minuten deutlich kürzer ausgefallen als auf dem Vorgänger. Die erzeugte Stimmung ist meist eher munter und beschwingt, und den ganz tiefen Obertongesang gibt es auf dieser Platte gar nicht zu hören.

Wer sich an diesem sicher nicht leicht zu konsumierenden Projekt zumindest gelegentlich erfreuen kann, sollte unter der oben genannten Adresse auch mal nach möglichen Konzertterminen in der näheren Umge-bung Ausschau halten. Live wirkt dieses Ensemble noch beeindruckender und intensiver, wovon ich mich im Mai ´98 (in Duisburg) und Oktober ´02 (in Düsseldorf) bei einem Konzertbesuch selbst überzeugen konnte. Leider sind diese gemeinsamen Konzertauftritte sehr rar gesät.

- Burkhard - 04/99