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Interview mit Klaus Farin vom ARCHIV DER JUGENDKULTUREN

Seit zwölf Jahren gibt es in Berlin das Archiv der Jugendkulturen. Der kleine Verein beschäftigt sich mit allem, was mit Subkultur und Jugendszenen zu tun hat – von Flyern und Fanzines hin zu Mode und Musik. Das Archiv in der Fidicinstraße 3 (Öffnungszeiten: Mo-Fr 10-18 Uhr sowie nach Vereinbarung) ist Anlaufstelle für Menschen, die den Unterschied zwischen Punk und Funk oder mehr über Techno, Gothic, HipHop oder die fast vergessene Swing Kids-Bewegung wissen möchten. Wir sprachen mit Archiv-Leiter Klaus Farin (52).

Klaus, wie würdest Du das Archiv der Jugendkulturen jemandem beschreiben, der noch nie davon gehört hat?
Klaus Farin: Es ist die einzige Einrichtung in Europa, die sich kontinuierlich mit Jugendkulturen beschäftigt – mit dem Versuch, differenzierte Information zu forschen, aufzubereiten und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Jugendkulturen werden ja meistens pauschal negativ dargestellt: Techno = Drogen, Black Metal führt zu Satanismus, alle Skinheads sind Nazis, Emo ist selbstmordgefährdend und Bushido geht gar nicht. Das sind Mythen, denen wir aktiv gegenübertreten. Denn Fakt ist: Wir haben es aktuell mit der brävsten Jugendgeneration seit 1945 zu tun.

Wie muss man sich Deine tägliche Arbeit im Archiv der Jugendkulturen vorstellen?
Farin: Zum einen betreiben wir in Berlin-Kreuzberg eine Präsenzbibliothek, in die jeder kommen und kostenlos forschen kann. Wir haben immer wieder auch Studierende aus Nürnberg da, die für ihre Abschlussarbeit recherchieren und dann drei Wochen mit ihrem Laptop hier herumsitzen und uns den Kaffee wegtrinken (lacht). Neben der Bibliothek machen wir viele Projekte, zum Beispiel über 80 Fortbildungs- und Veranstaltungstage im Jahr in ganz Deutschland. Es vergeht kaum eine Woche, in der wir nicht unterwegs sind – entweder kleinere Veranstaltungen, wo nur ich komme, oder aber größere Geschichten mit 30 Leuten, wenn wir an einer Schule einen Projekttag veranstalten. Außerdem haben wir einen Verlag mit über 60 eigenen Publikationen. Und wir forschen sehr viel, befragen regelmäßig Jugendliche und sind da, wo sich Jugendszenen treffen.

Was verstehst Du unter Jugendkultur?
Farin: Jugendkulturen sind für uns informelle Gemeinschaften, in denen sich Jugendliche zusammentun, um hauptsächlich ihre Freizeit gemeinsam zu gestalten. Wobei Musik und Mode wichtige Aspekte sind. Jugend deshalb, weil der Einstieg oft im Jugendalter ist, in der Pubertät und kurz danach. Das heißt nicht, dass alle ab 30 da austreten müssen. Die Szenen werden ja immer altersheterogener. Nur der Einstieg erfolgt eben im Jugendalter. Meistens sind das Jugendliche, die sich in den traditionellen Vereinen nicht wohlfühlen, mit den klaren Regeln und Pflichten und den langfristigen Verpflichtungen dort nicht klarkommen. Informelle Jugendkulturen sind da ein bisschen spontaner und lockerer und weitgehend erwachsenenfrei.

Gerade in der Skinhead- oder Rockabilly-Bewegung trifft man doch aber längst schon immer mehr Erwachsene ...
Farin: Das ist inzwischen in fast allen Szenen so. Die Jugendkulturen, über die wir reden, sind ja fast alle selbst schon alt, reichen in die 70er und 80er Jahre oder noch weiter zurück. Da entsteht kaum etwas Neues.

Emo war eine neue Jugendkultur ...
Farin: ... und galt gleich mal wieder als schwul. Jungens, sie sich schminken und androgyn geben, werden immer extrem Stress kriegen – anders als bei den vielen Macho-Varianten. Aber allmählich wird Emo ernster genommen, nicht erst, seit er von der Bravo entdeckt wurde. Das merkt man auch an der wissenschaftlichen und studierenden Beschäftigung: Allein bei uns im Archiv sind schon drei Arbeiten zu Emo entstanden.

Warum braucht Deutschland ein Archiv der Jugendkulturen?
Farin (lacht): Ich finde schon, dass differenzierte Informationen über Jugendliche und Jugendkulturen notwendig sind. Es gibt keine andere Quelle außer uns, wo man sich als Lehrer, Eltern oder Jugendarbeiter informieren kann, ob denn wirklich alle Skins rechts sind oder ob Sido gefährlich ist.

Spätestens beim nächsten Amoklauf eines Schülers rückt das Thema zwangsläufig wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Man freut sich, wenn die Polizei beim Täter eine Marilyn Manson-CD findet oder den Ego-Shooter „Counterstrike“ auf seinem PC. Dann dürfen die üblichen Verdächtigen wie der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer ihren Senf dazu abgeben, und das war’s dann. Hat da nie wer bei Euch angerufen und nachgefragt?
Farin: Doch, aber wir geben oft andere Antworten, die der Realität entsprechen, aber nicht so gerne gehört werden – auch nicht von unseren Medienkollegen. Wenn wir zum Beispiel sagen, dass Computerspiele keine Amokläufer produzieren und überhaupt Medien niemanden zum Gewalttäter machen, sondern wenn überhaupt das konkrete soziale Umfeld dafür verantwortlich ist, dann hört man das nicht gerne. Es ist ja schön bequem zu sagen, die Medien sind an allem Schuld: Rechtsrock, Computerspiele, was auch immer. Nur wird so eine Aussage natürlich weniger gerne veröffentlicht als die einfachen Erklärungen von amoklaufenden Wissenschaftlern.

Gibt es denn wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, ob Medienkonsum einen direkten Einfluss auf Gewalttaten wie zum Beispiel einen Amoklauf hat?
Farin: Es gibt inzwischen viele Erhebungen zu diesem Thema, die alle im Kern sagen, dass es nicht den einen entscheidenden Einfluss gibt. Man weiß, dass Medien nicht Ursache für menschliches Verhalten sind. Sie können verstärken. Wenn ich einen Jugendlichen einsperre und ihm 24 Stunden lang Rechtsrock vorspiele, dann wird der nicht automatisch zum Neonazi. Nicht, wenn er nicht schon vorher einer war. Wer aber ohnehin in diese Richtung tendiert, kann sich durch die Musik bestärken. Das kennt jeder aus dem eigenen Alltag: Wenn man schlecht drauf ist, hört man andere Musik als wenn man frisch verliebt ist. Man nutzt Medien, um seine eigenen Gefühle zu steigern. Aber Medien können Menschen nicht total verändern. Das soziale Umfeld spielt auch eine große Rolle: Ob jemand nur Medien hat, wie intensiv gespielt wird und vieles mehr. Wenn einer den ganzen Tag Ego Shooter spielt, wirkt das sicher anders, als wenn jemand ab und zu in seiner Freizeit eine Runde zockt. Der Bielefelder Pädagoge und Jugendforscher Wilhelm Heitmeyer hat das mal sehr schön auf den Punkt gebracht: „Wer glücklich und zufrieden ist, ist nicht gefährdet.“

Warum ist das Archiv für Jugendkulturen bedroht?
Farin: Wir haben 1998 mit 185 Quadratmetern angefangen, jetzt haben wir 700. Die Sammlung wächst, wir bekommen immer mehr Publikum. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen jeden Monat 2000 Euro privat aufbringen, um die Miete zu finanzieren und weitermachen zu können. Fast alle arbeiten ehramtlich hier, wir haben keine einzige hauptamtliche Stelle und noch nie eine Strukturförderung bekommen. All das schaffen wir jetzt einfach nicht mehr. Als kürzlich unser Mietvertrag auslief, haben wir uns im Vorfeld überlegt, eine Stiftung zu gründen. Dafür müssen wir 100 000 Euro als Grundstock zusammen bekommen. Wenn uns das gelingt, haben wir eine Perspektive, denn die Stiftung wird in drei bis vier Jahren die Miete zahlen können.

Und wie schaut’s aus?
Farin: Wir haben es fast geschafft. Der Mietvertrag ist verlängert, die Stiftung wird gegründet. Es fehlen zwar noch 5000 Euro, aber die kriegen wir bis Ende des Jahres auch noch zusammen.

Das Archiv der Jugendkulturen hat auch einen eigenen Verlag ...
Farin: Wir bringen Bücher zu unserem Themenbereich heraus: Fachbände, autobiographische Schriften und inzwischen über 60 Publikationen zu allen möglichen Jugendkulturen. Die kann man in jeder Buchhandlung bekommen, aber für uns ist es natürlich am günstigsten, wenn man die direkt bei uns im Shop unter www.jugendkulturen.de bestellt. Da geht der volle Erlös an uns. Wenn wir den Buchumsatz über unseren Shop verdoppeln könnten, könnten wir die Miete davon bezahlen. Wer uns also nicht spenden will oder kann, der kann ja ein Buchpaket bei uns bestellen ...

In meinem Keller steht noch eine Kiste mit alten Fanzines herum ...
Farin: Her damit! Egal aus welcher Ecke des Lebens – wir sammeln alles. Gerade Fanzines sind ein Schwerpunkt in unserem Archiv. Wir haben 30 000 davon – eine Sammlung, die man wirklich nirgendwo sonst findet. Und die haben wir fast ausschließlich dadurch zusammengetragen, dass Sammler und Szenemenschen irgendwann umgezogen sind und an uns gedacht haben.

Interview: STEFAN GNAD - November 2010