Wie
meinte Herausgeber Martin so treffend als ich den Vorschlag machte, Lemmys Biographie
zu rezensieren? "Dann gibt´s endlich wieder mal richtig Rock´n´Roll im
ZWNN!" Nun gut, kann er haben, wir wollen ja schließlich nicht daran
schuld sein, wenn das ZWNN zu kopflastig wird, ähem.
Und Rock´n´Roll pur ist dieses oberamtliche Werk auf jeden Fall. Allerdings
in einem durchaus intelligenten Sinne (um es von Mötley Crües "The
Dirt" abzugrenzen) - und auch in einem souveränen, ironischen Sinne,
worin es sich von Chris von Rohrs "Hunde wollt ihr ewig rocken?" abhebt,
obwohl auch letzteres immer noch absolut lesenswert ist (dazu scheint's sehr
unterschiedliche Meinungen in der Redaktion zu geben... - Martin). Typisch
britisch halt, möchte man sagen.
Zusammen mit Janiss Garza, die für die Niederschrift der ins Diktiergerät
geraunzten Statements des Meisters verantwortlich zeichnete, berichtet der Motörhead-Mastermind
als eine der letzten wirklichen noch lebenden Rock-Legenden kurz vor seinem
sechzigsten Geburtstag aus seinem bewegten Leben. Ja Leute; Lemmy ist Jahrgang
`45 und hat die Entstehung und Entwicklung des Rock´n´Roll hautnah miterlebt.
Ausgehend von seiner Kindheit in Wales, wohin er mit seiner Mutter gezogen war,
nachdem sein Erzeuger die Familie verlassen hatte, über seine unsteten
Wanderjahre als Jugendlicher bis hin zu seinen Anfängen in der Londoner
Musikszene und seiner Karriere mit Motörhead, weiß er aus allen Epochen
seines Lebens Fesselndes und Interessantes zu berichten, illustriert durch einige
- leider viel zu wenige - ausgewählte Fotos. Er erzählt flüssig
und anekdotenhaft, vermag den Leser mitleiden zu lassen in seinen besonders
bitteren Momenten, läßt ihn allerdings auch in schallendes Gelächter
ausbrechen angesichts einiger wirklich haarsträubender Begebenheiten. Augenzwinkernd
verbindet er Bizarres mit Banalem, Tragisches mit Trivialem und Skurriles mit
teils tiefgründigen, teils entwaffnend simplen Lebensweisheiten.
Skandale werden weitgehend ausgespart, und selbst wenn Lemmy von Absonderlichem
und Ungeheuerlichem berichtet, so läßt er dem Leser doch genügend
Raum, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Ganz Gentleman kommentiert er bisweilen
allenfalls mit sarkastischem Unterton, ansonsten wird einfach geschildert, was
sich im Laufe seines Lebens so zugetragen hat. Besonders interessant sind jene
Anekdoten, die von Mitmusikern und Bandkollegen (vor allem bei Hawkwind und
natürlich bei Motörhead) handeln, und selbst vermeintliche Insider
werden sich wundern, was hinter so manchem Gerücht in Wahrheit steckt bzw.
welche Umstände zu welchen Konstellationen führten. Natürlich
dürfen auch einige "Macho in extremis"-lastigen Selbstdarstellungen
nicht fehlen, doch so paradox es auch klingen mag: Lemmy scheint ein ausgesprochener
Frauentyp zu sein, und die Damen scheinen seine eigenwillige Art auch durchaus
zu schätzen zu wissen.
Ganz in seinem Element ist der bekennende Speedfreak aber immer dann, wenn er
über Drogen referiert. Eine zigfache Überdosis Belladonna kommentiert
er (nach anschaulicher Beschreibung seiner mehrwöchigen Ausfallerscheinungen)
trocken damit, daß es zwar interessant gewesen sei, aber nicht interessant
genug, um damit weitere Erfahrungen zu sammeln. Ganz zu schweigen von der Anekdote
als ihm ein Arzt Anfang der Achtziger eröffnet, daß sein Blut für
andere Menschen toxisch sei; einfach köstlich!
Allerdings: Trotz einer gewissen, R´n´R-immanenten, Schrägheit wird schnell
klar: Der Mann weiß, wo es im Leben lang geht. Lemmy und die Frauen, Lemmy
und die Drogen, Lemmy und seine Band, Lemmy und das Business, Lemmy und seine
Wurzeln (nein, nicht Warzen), Lemmy und sein Credo...
Für all dies wurde einmal vor langer Zeit das Wörtchen attitude
geprägt, das in unserer schnelllebigen, trendverseuchten Zeit kaum ein
Mensch mehr zu kennen scheint, welches aber in Lebensläufen wie diesem
wieder zu leuchten beginnt.
Natürlich wird auch Lemmys Biographie die Welt nicht weiter verändern,
aber was er so zu sagen hat in puncto Leben und leben lassen, Gesellschaft und
Ideologien, (beängstigendem) Wahnsinn und (sympathischer) Verrücktheit,
hat Hand und Fuß und offenbart in vielerlei Hinsicht weit mehr an Einsichten
als sich die zivilisierte (oder auch "normale"?) Menschheit jemals
verinnerlichen könnte, geschweige denn von einem Rock´n´Roller (oder "Asozialen"?)
erwarten würde.
Sei´s drum; Lemmy verkörpert Sex and Drugs and Rock´n´Roll auf einem derart
hohen Niveau wie kaum ein Zweiter, und das Erstaunliche daran ist, daß
bei ihm trotz aller Exzesse keine allzu gravierenden Ausfälle auszumachen
sind (im Gegensatz zu einem gewissen Ozzy O., zum Beispiel, der im Laufe der
Jahre mehr und mehr die Kontrolle über sich und die Verantwortung für
sich abgegeben zu haben scheint). Ein Phänomen, ein Urviech, eine Legende,
der man wohl nur mit einem Zitat einer weiteren Legende halbwegs gerecht werden
kann. Und zwar mit einem Bon Scott-Bonmot, der nach einem kleineren Zusammenbruch
seinen Kumpels geraten haben soll: "Bleibt wie ihr seid. Was ich hier mache,
ist eine Ausnahme."
Fazit: Das Buch ist ein echter Pageturner – auch (oder gerade) in der englischen
Originalversion – und wer es nicht gelesen hat, sollte nie mehr lautstark Motörhead-Songs
mitgröhlen dürfen. Und wer es gelesen hat, wird im Falle eines Zusammentreffens
mit Lemmy bestimmt nicht den fatalen Fehler begehen, ihn auf einen ganz bestimmten
Song anzusprechen oder ihm diesen gar vorzusingen.
- Klaus - 06/04