Zur Rubrik "Lesen"
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Tad Williams
- „Der Drachenbeinthron“ (1988)
- „Der Abschiedsstein“ (1990)
- „Die Nornenkönigin“ (1993)
- „Der Engelsturm“ (1994)

Jach. . . .da kann der Winter auch noch so dunkel, grau, kalt und garstig sein, er verliert sofort seinen Schrecken, wenn man sich unter die heimische Bettdecke kuscheln kann und sich von der Phantasie eines Autors bei der Hand nehmen und in von ihm ersonnene fremde und interessante Welten entführen läßt. Wenn die Reise dann, wie in diesem Fall, eine wirklich schier unendliche Geschichte zu werden verspricht, na, umso besser! Ihr kennt das sicher, man mag dann nur sehr ungern davon ablassen und möchte sie, so sie zu faszinieren versteht, kontinuierlich weiter verfolgen. Nun mag ein besonnener und bodenständiger Verstand an dieser Stelle Bedenken anmelden, von Suchtpotential reden und, gar nicht mal sooo zu unrecht, wie ich bestätigen muß, mit Schlagworten wie Eskapismus und Realitätsflucht argumentieren wollen. All dies ist mir bekannt und ich für meine Person wähle desöfteren bewußt eine der vielen Möglichkeiten, die Realitätsebene zu wechseln. Genau dies scheint, wie im NK schon erwähnt, einem Grundbedürfnis des menschlichen Bewußtseins zu entsprechen - die eigene begrenzte Person und Identität, die eigenen, durch die gegebene Umwelt beschränkten Lebens- und Erfahrungsmöglichkeiten und, ja, den leider oftmals allzu grauen und banalen Alltag hinter sich zu lassen, kurz, den einen Schein mit einem anderen, verzaubernden, zu vertauschen. Geschichten in Büchern (aber auch: Filme, Musiken, Tänze, Naturtrips und vieles andere mehr, gerne auch kombiniert mit diversen Rauschmitteln, können die Weltwahrnehmung verklären, den eigenen Daseinshorizont überschreiten lassen) oder in anderer Form vermittelt, boten den Menschen schon immer beste Gelegenheit sich zu phantastischen Abenteuern mit ebensolchen Bewohnern und Wesen in ebensolchen Ländern davonzuträumen. 
Und, mal grundsätzlich gefragt, was ist denn die eigentliche Realität? Ist nicht alles Wahrgenommene gleichsam wahrhaftig? Nur weil wir alle mehr oder weniger in der sinnlichen Wahrnehmung dieses unseren Daseins auf einer materiellen Ebene übereinstimmen, muß diese Tatsache nicht zwingend zu der Schlußfolgerung eines alleingültigen Realitätsanspruches verleiten. Zumal alleine schon die objektiv gegebene Umgebung von jeder Spezies, von jedem Lebewesen, subjektiv völlig unterschiedlich erfahren wird. Und weitergehend zeigt sich die materielle Ebene, wie wir aus den Ergebnissen und  Schlußfolgerungen der Quantenphysik wissen, überraschenderweise als ungleich scheinhafter, als sie es unseren trägen Sinnen vorgaukelt. Dort, im tiefen Grunde der Stofflichkeit, ist das einzig wirklich Beständige das Quantenfeld, aus dem alle subatomaren Teilchen hervor- und wiederum darin aufgehen, tanzende Energie, in ständiger Erschaffung und Zerstörung begriffen. Dies einheitliche, undifferenzierte Feld, aus dem die Ordnung und Struktur des Universums entspringt, gleicht übrigens erstaunlich den alten chinesischen Vorstellungen des Tao, wie auch der des buddhistischen Nirwana. Kurz gesagt, um mal auf den Punkt zu kommen, die moderne Naturwissenschaft sagt uns: Materie hat keine absolute Beständigkeit. So etwas wie Teilchen gibt es nicht, niemand hat da jemals etwas Greifbares, das nicht sofort in kleinere Wirkungen zerfallen würde, gefunden - Materie ist Nichts, ist Leere. Eine schier undurchschaubare Illusion, und dennoch nichts als eine Illusion. Quantenphysiker, welche diesen Text nun zufällig lesen sollten, seinen eingeladen, eventuelle, sich eingeschlichen habende gedankliche Sockenschüsse zu berichtigen, ich weiß, daß ich mich mit diesen Passagen weit aus dem Fenster lehne, bin aber recht sicher, es ist alles korrekt wieder gegeben und zu Ende gedacht.  Aus meiner Sicht sind Träume, Phantasien oder mystische Visionen und Zustände nicht weniger real, als das Haus am Ende der Straße.  Daß die beruhigende Verläßlichkeit und Sicherheit der stofflichen Wirklichkeit, zu der man immer wieder zurückkehren kann, etwas durchaus positives ist, wie jeder Psychotiker wohl gerne bestätigen würde, möchte ich mit solchen Aussagen gar nicht in Abrede stellen, ich wehre mich nur gegen Ansichten, die häufig ein Verhalten unterschwellig als leicht pathogen hinstellen, das eher introvertiert oder introspektiv, also nach Innen gewandt, veranlagt ist. 
Wozu außerdem das menschliche Bewußtsein befähigt ist, welche Dimensionen es umfaßt, ja, was es in seinem Innersten wirklich ist, wird jeder erkennen und vielleicht sogar erfahren dürfen, der sich nur eingehend genug damit beschäftigt. 
Was den scheinbaren Gegensatz zwischen Traum (oder Phantasie) und Wirklichkeit angeht, so muß ich einfach abermals, wie schon in NK 3, diesbezüglich good ol' H. P. Lovecraft zu Worte kommen lassen, der in "Die Katzen von Ulthar" sinniert, "daß das ganze Leben nur eine Folge von Bildern im Gehirn (na, bißchen unglücklich gewählt vielleicht, dieser Begriff, kann man aber noch gelten lassen, da man bei Lovecraft ja weiß, wie's gemeint ist - H.) ist, wobei kein Unterschied besteht zwischen jenen, die realen, und jenen, die inneren Visionen entspringen, und also auch kein Grund vorliegt, die einen höher als die anderen einzustufen". Eine Aussage, die, wie ich finde, man ob ihrer revolutionären Botschaft durchaus mehrere Male betonen kann und sollte. 
Und dann gibt es noch eine weise und zugleich humorige kleine Erzählung gleichen Inhalts aus dem alten China namnes "Herr Wu und der Schmetterling", welche davon handelt, wie Herr Wu in mehreren aufeinander folgenden Nächten kontinuierlich davon träumte, ein Schmetterling zu sein, sich vollkommen mit diesem Insektenleben identifizierte, fühlte und handelte wie ein Schmetterling, über grüne sommerliche Wiesen flatterte, von allerlei Blumen angezogen wurde, aus deren Blüten er den Nektar trank, und so weiter. . . . . . dies führte dann so weitgehend, daß Herr Wu eines morgens erwachte, und tatsächlich nicht mehr zu unterscheiden wußte: war er nun Herr Wu, der träumte, ein Schmetterling zu sein - oder aber, war er nun ein Schmetterling, der träumte, Herr Wu zu sein......
Zugegeben, wenn man die verschiedenen Dimensionen nicht mehr auseinader halten kann, wie im Falle Herrn Wus, ist die dünne Linie der Grenze zur Psychose schon überschritten, die Geschichte will aber nur die Relativität derselben verdeutlichen. 
So, nach dieser vorangestellten kleinen, aber mir wichtigen Exkursion über Geschichten, Eskapismus und Realitätsebenen, wollen wir nun endlich beschreibenderweise zu jenem Objekt vordringen, dessenwegen ihr hier eigentlich reingegeklickt seid - Tad Williams Legende über das sagenhafte Land Osten Ard.
Den Namen dieses Autors hatte ich schon einige Male freundlich erwähnt gefunden und darauf hin im Hinterkopf als interessant abgespeichert. Beim stöbern in den Regalen unserer örtlichen Bücherei durfte ich erfreut diesen vollständigen Roman-Zyklus entdecken, auf den ich mich dann nach kurzem Zögern, ob seines beeindruckenden Umfanges von etwa 3400 Seiten, einließ. Ich habe es nicht bereut. Wenn die ersten hundertfünfzig bis zweihundert Seiten sich auch, wie ich warnend hinzufügen muß, sehr zähflüssig gebärden, bis dann die Handlung endlich in Bewegung gerät. Diese in ein paar Sätzen zusammen zu fassen, ist kein einfaches Unterfangen. Sie entfaltet sich in einem mittelalterlichen Szenario, nach dem Tode eines großen Herrschers, der zwei Söhne hinterläßt, deren älterer, sein Nachfolger als Hochkönig, unter dem Einfluß seines dämonischen Ratgebers, das Reich Osten Ard voll in die Scheiße reitet. Worauf der jüngere Sohn eine Revolution gegen die Mißherrschaft seines Bruders anführt, zumal sich bald herausstellt, daß im Hintergrund eine weit größere Bedrohung für die Menschen lauert und die Fäden zieht, nämlich der untote Geist des Feen-Prinzen Ineluki, der auf Rückkehr und fürchterliche Rache an dem Volk sinnt, das sein eigenes und ihn dereinst vertrieb und tötete. Nun, die ganze epische Story klingt in zwei Sätze geschnürt recht platt, was der doch ziemlich komplexen, von allerlei exotischen Wesen und Rassen bevölkerten Welt, welche Williams mit leichter Hand hier erschafft, unrecht tut. Sowohl die unzähligen Protagonisten, wie etwa der junge Simon, Prinz Josua und ihre in eine weit verzweigte Odyssee getriebenen Mitstreiter, als auch die Handlung, welche sich teilweise in sieben, acht, neun parallelen Strängen entwickelt, sind durchaus vielschichtig angelegt. Unbestreitbar, daß eine große inspirative Quelle für Williams die Mutter aller Fantasy-Stories, "Der Herr der Ringe", gewesen sein muß. Alle klassischen Geschichten dieses Genres müssen sich wohl, ob das nun den Autoren recht ist oder nicht, die Vermutung des Vorbildcharakters von J. R. R. Tolkiens meisterlichem Epos gefallen und sich mit diesem vergleichen lassen. Quantitativ hat Williams es mit seiner Saga ("die Geschichte, die mein Leben auffraß...", wie er ironisch bemerkte) bei weitem übertroffen (man braucht, grob geschätzt, vielleicht 160 - 180 Stunden Realzeit, um sie zu durchqueren), und auch qualitativ würde ich sie kaum darunter ansiedeln. Sprachlich ist Williams absolut versiert, desöfteren zum Beispiel hat er elegante, beeindruckende, mir mindestens ein anerkenndes Hochziehen der Augenbrauen entlockende Metaphern, bildhafte Umschreibungen, so ganz nebenbei eingeflochten.
Holt also euren Hut und Wanderstab, die Kristallkugel und das Breitschwert, all die schon angestaubten Utensilien aus dem Wandschrank, wenn ihr mal wieder das Verlangen verspüren solltet, eine Reise jenseits eures bekannten Lebenskreises zu tun und dabei nahezu unglaubliche Abenteuer zu erleben - und warum diese auch nicht mal nach Osten Ard...? 
Interessanter als Mallorca dürfte es allemal werden...

- Heiko - 02/01