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TOM RUSSELL – The Man From God Knows Where ('99)

Als ich im Katalog des ars!-Plattenversandes einen Auszug aus der Rezension der Zeitschrift Stereoplay las, hatte ich ja zunächst doch so einige Bedenken, ob ich mir diese Platte überhaupt bestellen soll, da dort von amerikanischem Country und keltischen Rock die Rede war. Gerade bei Country kommt mir sowas wie Truck Stop in den Sinn und ruft gleich große Abneigung hervor, und als ein eingefleischter Anhänger keltischer bzw. irischer Folklore würde ich mich auch nicht gerade bezeichnen. Aber da das Konzept dieser Platte sehr interessant klang und auch Kari Bremnes mit dabei war, habe ich es einfach mal gewagt – und es hat sich gelohnt! Zwar stehen neben ein paar irischen und auch norwegischen Folklore-Einflüssen tatsächlich amerikanische Country-Einflüsse hörbar im Vordergrund, aber zu meiner eigenen Verwunderung gefallen mir die Songs überwiegend sehr gut! Wenn man von einigen Songs gar zu Tränen gerührt wird, dann kann die Musik so schlecht wohl nicht sein, wobei in diesem Zusammenhang sicher auch die (sehr guten) Texte eine sehr wichtige Rolle spielen. Was man auf dieser Platte nämlich definitiv nicht geboten bekommt, ist eine verlogene/verkitschte Wild West-Lagerfeuerromantik, wie man sie u.a. aus der Marlboro-Sargnagelwerbung kennt. Stattdessen vermitteln einem die 26 Songs in ca. 75 Minuten einen Einblick in ein Stück amerikanischer (Einwanderungs-) Geschichte, das in (amerikanischen) Schulbüchern vermutlich weniger (wenn überhaupt) vorkommt.

Diesem Album, das Tom Russell selbst als "Folk Opera" bezeichnet, liegt als Konzept ein Song-Zyklus über seine Familiengeschichte zugrunde. Wie er in seiner Einleitung schreibt, gehen die Verwandtschaftslinien seines 1997 gestorbenen Vaters Charlie Russell zurück bis zu Patrick Russell aus Templemore (Irland) und Ambrose Larsen aus Bergen (Norwegen). Zum Plattentitel kam er durch eine Begegnung mit einem Mann in einer Bar in Downpatrick (Irland), der ihm erzählte, daß man seinen Namensvetter, Thomas Russell, 1798 direkt auf der Straßenseite gegenüber gehängt habe und es über ihn ein Gedicht mit dem Titel "The Man From God Knows Where" gebe. In der Einleitung heißt es dann noch: "We sing here of the triumph of individuals in the face of isolation, rootlessness, disease, madness and suicide...So, "The Man From God Knows Where" stops off in a tavern, begs a pint, and begins to sing. He summons his ancestors up from their graves and bids them tell their story." Gerade die Erzählweise aus der Ich-Perspektive führt dazu, daß man sich gut in das persönliche Schicksal der Charaktere auf diesem Album hineinversetzen und ihre Eindrücke und Empfindungen nachvollziehen kann. Diese Charaktere sind: The Man From God Knows Where, Patrick und Charlie Russell (alle gesungen von Tom Russell), Wayfaring Stranger (gesungen von der amerikanischen (?) Sängerin Iris DeMent), The Outcaste (Dave Van Ronk), Mary Clare Malloy (Dolores Keane), Ambrose Larsen (Sondre Bratland) und Anna Olsen (Kari Bremnes).

Zur Charakterisierung der in den Texten und der Musik ausgedrückten Stimmungen fallen mir allgemein folgende Begriffe ein: Wehmut, Sehnsucht, Heimweh, Melancholie und Trauer.
Der Titelsong, mit dem das Album auch beginnt, wird im weiteren Verlauf noch dreimal aufgenom-men, und auch das nachfolgende Traditional "Wayfarin´ Stranger" taucht noch einmal als Instrumental und dann als vorletztes Stück auf.
Im dritten Song gibt Patrick Russell im Jahr 1910 einen Rückblick auf seine Lebensgeschichte: "I was born in Templemore, in 1825 – I recall a happy boyhood, until my mother died – Starvation crept across the land, America´s our dream – Six cruel weeks on stormy seas, aboard the ship Tyrene." Man erfährt, wie die Familie über Quebec in die Vereinigten Staaten nach Milwaukee kam und schließlich in Iowa landete. Der Refrain "I`m an American Primitive man In an American Primitive land" taucht mit leichten Variationen auch noch in den Songs auf, in denen sich Mary Clare Malloy, Ambrose Larsen und Anna Olsen vorstellen.
Mit ihrer rauhen, etwas rauchigen Stimme singt die irische Sängerin Dolores Keane, wie "Mary Clare Malloy" im Alter von 18 Jahren zusammen mit 700 "picture brides" von Irland nach New York segelte, hin- und hergerissen zwischen Furcht und Hoffnung: "My first taste of the New World, turned to ashes very fast – The ones who entered freely were from first and second class – We steerage folk remained on board, as if we were exiles – The captain turned the ship around and sailed toward Ellis Isle – We disembarked and stood in line, with chalk marks on our coats – It was "X" for mental illness, if "E", back on the boat – They asked us what our breeding was, and could we read or write – Oh, the sound of women weeping swept those dormitories at night – My best friend was deported back, to a poor Killea home – Another sent to Swinbourne Isle, died of Cholera alone – The rest of us were shipped to trains, bound for Midwest States – Toward wild and stormy prairie lands, and our prospective mates." Musikalisch im krassen Gegensatz zu diesen Zeilen steht der richtig fröhlich und munter klingende Instrumentalteil eines irischen Traditionals zu Beginn und am Ende dieses Songs. Der musikalisch munterste, textlich hingegen wohl kritischste Song auf diesem Album ist sicher "The Outcaste", zu dem Dave Van Ronks heisere und "schwarz" klingende Stimme wie die vielzitierte Faust aufs Auge paßt. Dixieland-Musik ist nun eigentlich nicht mein Geschmack, aber hier paßt sie. Im Text heißt es u.a.: "Oh the blackman and the Indian, the Chinaman the Jew – They built yer friggin railroad and they picked yer cotton too – They washed yer dirty laundry, they tied yer children´s shoes – They got a right to sing the blues, cause they were outcastes!...The Norwegians hate the Swedish and the Swedes they hate the Finns – The Finns they hate the Russians and the Russians hate the Yids – Spicks and Wops and Greasars; Kikes and Spades and Ginny Hens – Hatred´s blowin in the wind; 10 millions outcastes...Old Georgie built the Whitehouse with slaves that died in pain – But Georges quarries made the gain, from blood of outcastes...". – Ob das die Schüler in den USA im Geschichtsunterricht auch erfahren?
Als nächstes erzählt "Ambrose Larsen" seine Geschichte und mit welchen Widrigkeiten er zu kämpfen hatte: "The blackbirds and the locusts, destroyed our corn and wheat – The hawks they ate the chickens, the wolves our mutton meat – With traps and plows and shotguns loud, we fought this olde wilde ground – Then our children caught the fever; but no doctors were around...". Eingeleitet wird dieser Song mit dem a capella vorgetragenen Beginn des norwegischen Folksongs "Eg veit i himmerik ei borg" ("Ich weiß im Himmelreich eine Burg" – hiervon gibt es jeweils eine sehr schöne – komplette – Version auf dem Album "Innerst i sjelen" der norwegischen Sängerin Sissel Kyrkjebø sowie auf dem Album "Salmer på veien hjem" von Kari Bremnes/Mari Boine/Ole Paus, gesungen von Kari Bremnes). Nach der schönen, schwermütigen Ballade "The Dreamin´" und dem nachfolgenden "The Old Northern Shore", bei dem Sondre Bratland und Kari Bremnes am Ende zusammen mit den anderen im Chor singen, erzählt "Anna Olsen" ihre Geschichte: "My name is Anna Olsen, leaving Norway, was so hard – I watch my nearest neighbors now, planting fruit trees in their yard – Their dreaming of the olde land has but added to their tears – As most of their young children died, before they reached six years – I married me a Svolvær man, praise God, we´ve faired quite well – while others fled in dark of night, from land too poor to sell – some hung themselves in apple trees, on broke & bankrupt farms – And the sun would rise on rotten fruit and the smoke of burning barns...".'
Im nachfolgenden "Rider On An Orphan Train" erzählt ein Mann rückblickend, wie er als Waise im Alter von drei Jahren zusammen mit seinem fünfjährigen Bruder in einem sogenannten "Orphan Train" fuhr und dann von ihm getrennt wurde ("He got taken by some pair, but for me they did not care – We were brave and did not cry, when they made us say goodbye"). Alle Versuche, ihn später noch mal ausfindig zu machen, schlugen fehl. Passend zu diesem Song enthält das Textheft ein Photo einer Dampflok, vor der in Reih und Glied jede Menge Waisenkinder stehen.
Das von Iris DeMent voller Wehmut vorgetragene "Acres Of Corn" handelt von der (unerfüllten) Sehnsucht, noch mal in die alte Welt zurückzukehren: "I thought I´d see London; at least gay Paree – But I´m starin´ at cornfields, and they´re starin´ at me...You bury your dreams, or you wish on a star – For an ocean line ticket, back to where you were born – Away from these hard times, and the acres of corn...".
Neben dem Text von "Sitting Bull In Venice" befindet sich ein Photo, auf dem man einen dicken ("Buffalo") Bill Cody zusammen mit vier Indianern in einer Gondel in Venedig sehen kann. In der ersten Strophe heißt es dazu passend: "Look at me, brave Sitting Bull, in this gondola canoe – Bill Cody brings us smoke and meat, so what are we to do? – I came across the water, in a boat no man could row – To play war in front of strangers, in Cody´s Wild West Show". Wieder ein traurig-melan-cholischer Song voller Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat ("I close my eyes, see the Bighorn Valley, long harvest moons ago – And the bloody scalp of Custer hanging from our victory pole").
Nach "The Old Rugged Cross" und "Anna Olsen´s Letter Home" folgt mit dem von Sondre Bratland gesungenen "Eg er framand" ("Ich bin ein Fremder") ein kurzer norwegischer Folksong. Anschließend erfährt man von Dolores Keane, was passiert, "When Irish Girls Grow Up": Sie verlassen die Farm und suchen sich Jungs in der Stadt. Sie trinken Whiskey, schminken sich, gehen nicht mehr zur Messe und geben ihre Tugendhaftigkeit auf – "Oh, isn´t it a pity, when Irish girls grow up?"
Nach "Casey Jones" erzählt Tom Russell in "Chickasaw County Jail" die bewegte Lebensgeschichte seines Vaters, der ein echter Überlebenskünstler gewesen zu sein scheint. In der Einleitung schreibt Russell über ihn: "He was an American Character in a drama played out somewhere between "It´s a Wonderful Life" and "Death of a Salesman". He died broke, pride intact, with a few boxes of clothes and photos." Im schönen und teilweise im Duett mit Iris Dement gesungenen "Throwin´ Horseshoes At The Moon" beschreibt Tom Russell das Auf und Ab im Leben seines Vaters dann aus seiner Sicht als Sohn.
Anschließend taucht noch mal "The Outcaste" auf und verkündet einige "unbequeme" Wahrheiten: "The Indian the Buffalo were slaughtered for their hides – But we´ve created a new species, from the Melting Pot a Tribe – Boastful, lustful, arrogant, with an unsatiated pride! – We rule the world, can´t be denied and we´re all outcastes!...Have you forgotten who you are? Have you forgotten why you came? – The Graveyards back in Templemore! Bergen town in flames! – The recipe of the whiskey! The Family Tree! The Family Name! – Loss of memory´s such a shame, ye bloody outcastes. – Stand up and clap your hands, salute the outcastes!"
Beschlossen wird dieses Album mit der von Tom Russell und Iris DeMent im Duett vorgetragenen und richtig unter die Haut gehenden Ballade "Love Abides", in deren Refrain es heißt: "You may cross the barren desert, You might walk your path alone, But a sudden storm may blind you, Shake your spirit to the bone, Seeking shelter for a weary heart, Somewhere to rest, somewhere to hide, Then somewhere down that troubled road, You´ll find a place where love abides."

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß derjenige, der sich durch die auf diesem Album deutlich zu erkennenden Country-Einflüsse nicht abschrecken läßt und genügend Toleranz mitbringt, einiges für sein Geld geboten bekommt. An der Qualität der vom norwegischen Plattenlabel Kirkelig Kulturverksted veröffentlichten Alben könnten sich einige große Majorfirmen mal ein Beispiel nehmen, aber bei diesen ist man wohl der Meinung, daß anspruchsvolle Musik und kommerzieller Erfolg zwei unvereinbare Gegensätze sind.

Der Sound auf diesem Album ist übrigens (mal wieder) 1A.

- Burkhard - 11/99