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Lemmy – White Line Fever – The Autobiography (2003)

Wie meinte Herausgeber Martin so treffend als ich den Vorschlag machte, Lemmys Biographie zu rezensieren? "Dann gibt´s endlich wieder mal richtig Rock´n´Roll im ZWNN!" Nun gut, kann er haben, wir wollen ja schließlich nicht daran schuld sein, wenn das ZWNN zu kopflastig wird, ähem.
Und Rock´n´Roll pur ist dieses oberamtliche Werk auf jeden Fall. Allerdings in einem durchaus intelligenten Sinne (um es von Mötley Crües "The Dirt" abzugrenzen) - und auch in einem souveränen, ironischen Sinne, worin es sich von Chris von Rohrs "Hunde wollt ihr ewig rocken?" abhebt, obwohl auch letzteres immer noch absolut lesenswert ist (dazu scheint's sehr unterschiedliche Meinungen in der Redaktion zu geben... - Martin). Typisch britisch halt, möchte man sagen.
Zusammen mit Janiss Garza, die für die Niederschrift der ins Diktiergerät geraunzten Statements des Meisters verantwortlich zeichnete, berichtet der Motörhead-Mastermind als eine der letzten wirklichen noch lebenden Rock-Legenden kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag aus seinem bewegten Leben. Ja Leute; Lemmy ist Jahrgang `45 und hat die Entstehung und Entwicklung des Rock´n´Roll hautnah miterlebt.
Ausgehend von seiner Kindheit in Wales, wohin er mit seiner Mutter gezogen war, nachdem sein Erzeuger die Familie verlassen hatte, über seine unsteten Wanderjahre als Jugendlicher bis hin zu seinen Anfängen in der Londoner Musikszene und seiner Karriere mit Motörhead, weiß er aus allen Epochen seines Lebens Fesselndes und Interessantes zu berichten, illustriert durch einige - leider viel zu wenige - ausgewählte Fotos. Er erzählt flüssig und anekdotenhaft, vermag den Leser mitleiden zu lassen in seinen besonders bitteren Momenten, läßt ihn allerdings auch in schallendes Gelächter ausbrechen angesichts einiger wirklich haarsträubender Begebenheiten. Augenzwinkernd verbindet er Bizarres mit Banalem, Tragisches mit Trivialem und Skurriles mit teils tiefgründigen, teils entwaffnend simplen Lebensweisheiten.
Skandale werden weitgehend ausgespart, und selbst wenn Lemmy von Absonderlichem und Ungeheuerlichem berichtet, so läßt er dem Leser doch genügend Raum, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Ganz Gentleman kommentiert er bisweilen allenfalls mit sarkastischem Unterton, ansonsten wird einfach geschildert, was sich im Laufe seines Lebens so zugetragen hat. Besonders interessant sind jene Anekdoten, die von Mitmusikern und Bandkollegen (vor allem bei Hawkwind und natürlich bei Motörhead) handeln, und selbst vermeintliche Insider werden sich wundern, was hinter so manchem Gerücht in Wahrheit steckt bzw. welche Umstände zu welchen Konstellationen führten. Natürlich dürfen auch einige "Macho in extremis"-lastigen Selbstdarstellungen nicht fehlen, doch so paradox es auch klingen mag: Lemmy scheint ein ausgesprochener Frauentyp zu sein, und die Damen scheinen seine eigenwillige Art auch durchaus zu schätzen zu wissen.
Ganz in seinem Element ist der bekennende Speedfreak aber immer dann, wenn er über Drogen referiert. Eine zigfache Überdosis Belladonna kommentiert er (nach anschaulicher Beschreibung seiner mehrwöchigen Ausfallerscheinungen) trocken damit, daß es zwar interessant gewesen sei, aber nicht interessant genug, um damit weitere Erfahrungen zu sammeln. Ganz zu schweigen von der Anekdote als ihm ein Arzt Anfang der Achtziger eröffnet, daß sein Blut für andere Menschen toxisch sei; einfach köstlich!
Allerdings: Trotz einer gewissen, R´n´R-immanenten, Schrägheit wird schnell klar: Der Mann weiß, wo es im Leben lang geht. Lemmy und die Frauen, Lemmy und die Drogen, Lemmy und seine Band, Lemmy und das Business, Lemmy und seine Wurzeln (nein, nicht Warzen), Lemmy und sein Credo...
Für all dies wurde einmal vor langer Zeit das Wörtchen attitude geprägt, das in unserer schnelllebigen, trendverseuchten Zeit kaum ein Mensch mehr zu kennen scheint, welches aber in Lebensläufen wie diesem wieder zu leuchten beginnt.
Natürlich wird auch Lemmys Biographie die Welt nicht weiter verändern, aber was er so zu sagen hat in puncto Leben und leben lassen, Gesellschaft und Ideologien, (beängstigendem) Wahnsinn und (sympathischer) Verrücktheit, hat Hand und Fuß und offenbart in vielerlei Hinsicht weit mehr an Einsichten als sich die zivilisierte (oder auch "normale"?) Menschheit jemals verinnerlichen könnte, geschweige denn von einem Rock´n´Roller (oder "Asozialen"?) erwarten würde.
Sei´s drum; Lemmy verkörpert Sex and Drugs and Rock´n´Roll auf einem derart hohen Niveau wie kaum ein Zweiter, und das Erstaunliche daran ist, daß bei ihm trotz aller Exzesse keine allzu gravierenden Ausfälle auszumachen sind (im Gegensatz zu einem gewissen Ozzy O., zum Beispiel, der im Laufe der Jahre mehr und mehr die Kontrolle über sich und die Verantwortung für sich abgegeben zu haben scheint). Ein Phänomen, ein Urviech, eine Legende, der man wohl nur mit einem Zitat einer weiteren Legende halbwegs gerecht werden kann. Und zwar mit einem Bon Scott-Bonmot, der nach einem kleineren Zusammenbruch seinen Kumpels geraten haben soll: "Bleibt wie ihr seid. Was ich hier mache, ist eine Ausnahme."
Fazit: Das Buch ist ein echter Pageturner – auch (oder gerade) in der englischen Originalversion – und wer es nicht gelesen hat, sollte nie mehr lautstark Motörhead-Songs mitgröhlen dürfen. Und wer es gelesen hat, wird im Falle eines Zusammentreffens mit Lemmy bestimmt nicht den fatalen Fehler begehen, ihn auf einen ganz bestimmten Song anzusprechen oder ihm diesen gar vorzusingen.


- Klaus - 06/04