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Roman Mauer – Jim Jarmusch – Filme zum anderen Amerika (2006)

Mein erster Jim Jarmusch-Film war "Night On Earth", und es war wie bei Salingers "Fänger im Roggen" oder "Unknown Pleasures" von Joy Division: Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Irgendwann hatte ich davon gehört, aber die Information auf den stetig wachsenden Papierstapel im Großhirn mit dem Schild "Klingt interessant, aber jetzt keine Zeit dafür, den Gedanken weiter zu verfolgen" gelegt. Dann liegt das Buch, das Album oder das Kinoprogramm vor einem, man erinnert sich an den Zettelhaufen, greift zu und hat ein Erlebnis, das man den Rest seines Lebens nicht mehr vergisst. "Night On Earth" habe ich seitdem wohl mindestens zehnmal gesehen, auf der Leinwand, im Fernsehen oder auf DVD. Das erste Mal war jedoch das eindrücklichste. Es war ein Freitag im Herbst 1992, ein Zivildiensttag war vorbei, Wochenende war frei, im Spätprogramm des Provinzkinos lief also "Night On Earth", vom Regisseur hatte ich noch nie was gehört, und daß Jim Jarmusch-Filme bis dahin nicht synchronisiert wurden bzw. jede Synchronisation, vor allem bei "Night On Earth", ein Verbrechen gewesen wäre, wußte ich damals auch nicht. Ich war auf jeden Fall schwer beeindruckt von einem Film, in dem eigentlich im Wesentlichen nur mit dem Taxi rumgefahren und geredet wird, als ich nachts um halb eins im Regen zum Parkplatz zurückstolperte. So beeindruckt, daß ich eine, aus heutiger Sicht etwas peinliche, Besprechung für die zweite Ausgabe des Nonkonform-Fanzines schrieb.
Mit Jarmuschs Frühwerken "Stranger Than Paradise" (’84) und "Down By Law" (’86) bin ich nie so richtig warm geworden, andere Werke mußten erst reifen, und erschlossen sich mir erst mit zunehmenden Alter (aber hallo!). Den "Dead Man"-Soundtrack (’95), mit der Gitarre von Neil Young und Dialogen aus dem Film, höre ich mir immer noch gerne an, "Coffee And Cigarettes" (’03) war in seiner scheinbaren Sinnfreiheit schlicht genial und "Broken Flowers" (’05) war dann nach "Ghost Dog" (’99) fast schon ein "richtiger" Film für ein breiteres Publikum.
Soviel zum fanzine-typischen Ego-Schreib, wenden wir uns der seriösen Buchkritik zu:

Dem Buch von Roman Mauer liegt eine Doktorarbeit über die Filme Jim Jarmuschs zugrunde. Als Folge dessen ist es klar gegliedert, was den Vergleich bestimmter Aspekte der einzelnen Filme erleichtert. Zu jedem Film wird der Kontext in dem er entstanden ist beleuchtet. Danach geht Mauer auf die Erzählstrategien und –architekturen ein und versucht das "Thema" des Films zu umreißen. Ein neuer Film von Jim Jarmusch ist von Fans schon nach wenigen Minuten als solcher zu identifizieren, da Jarmusch einen eigenen Stil entwickelt hat, dessen Eigenheiten man zwar intuitiv erkennt, aber schwer beschreiben kann. Eine Betrachtung zur Kameraarbeit und auch zur in den Filmen verwendeten Musik will eben diesen Stil in Worte fassen. Jedes Kapitel schließt mit Pressestimmen aus Deutschland, Frankreich und dem englischsprachigen Raum (abgesehen von "Coffee and Cigarettes" und "Broken Flowers", die nach Abschluß der Doktorarbeit angefügt wurden).
Abgerundet wird das Ganze durch die bei wissenschaftlichen Arbeiten üblichen Anmerkungen, die jedoch für das Verständnis des Textes nicht zwingend notwendig sind, einer Filmographie, einer umfangreichen Bibliographie und einem Index, der dazu einlädt, nach Verbindungen zu anderen Filmen oder Personen der Popkultur zu suchen.

Ein gewisses Interesse an Filmgeschichte und -theorie sollte man mitbringen, wenn man sich Roman Mauers Buch zulegen will, denn es handelt sich hier nicht um "Das große CINEMA Jim Jarmusch Buch". "Jim Jarmusch – Filme zum anderen Amerika" ist auch kein Buch über Jarmusch, sondern eben über seine Filme, denen jeweils ca. 40 Seiten gewidmet sind, aufgelockert und zum Wiedererinnern an die Filme mit kleinen Schwarz-Weiß-Fotos bebildert, jedoch nicht mit den üblichen Promo-Fotos des Verleihs, sondern mit den Text sinnvoll ergänzenden Screenshots der DVDs.
Manchmal geht Mauer zu sehr ins Detail, und Einzelaspekte werden in einer Ausführlichkeit behandelt, die dem ursprünglichen Zweck des Werkes geschuldet ist. Aber gut, man kann drüber weglesen, wenn man sich nicht davon angesprochen fühlt, und stößt dann bald wieder auf Aufschlußreiches, wie die verbindenden Details der "Night On Earth"-Episoden oder die literarischen Vorbilder der Namen der Personen in "Broken Flowers".
Vielen Fans reicht es, sich der ganz eigenen Atmosphäre von Jim Jarmuschs Filmen hinzugeben, und oft ist es ja so, daß Filme auf der emotionalen Ebene am besten erfaßt werden.
Gerade Jarmuschs Filme sind dazu geeignet, daß man sich mit ihnen eingehender beschäftigt, und wer das vorhat, erhält für 18,90 Euro sowas wie ein Standardwerk im deutschsprachigen Raum.
Erschienen ist "Jim Jarmusch – Filme zum anderen Amerika" im Bender Verlag.

Wer sich die Filme von Jim Jarmusch nach ausgiebiger Theorie-Lektüre dann auch mal kostengünstig ansehen möchte, sollte die Box von Kinowelt ins Auge fassen. Enthalten sind die Filme "Permanent Vacation", "Stranger Than Paradise", "Down By Law", "Mystery Train", "Night On Earth" (nicht nur für alle, die gerne Taxi fahren, ein Muß), "Dead Man" (Quasi-Western mit Johnny Depp), "Year Of The Horse" (Doku/Musikfilm über Neil Young), "Ghost Dog" und die Kurzfilmsammlung "Coffee And Cigarettes", in der sich Gaststars wie Tom Waits und Iggy Pop gegenseitig zurauchen, Kaffee in sich hineinschütten und dabei über genau dieses philosophieren. Zu den Filmen gibt's dann noch mehr oder weniger umfangreiche Extras, so daß sich die Box ganz formidabel als Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk eignet. Die Titel dürften auch einzeln erhältlich sein, falls jemand nur an einem bestimmten Film Interesse hat.

- Martin & Stefan - 03/07