Mein
erster Jim Jarmusch-Film war "Night On Earth", und es war wie bei
Salingers "Fänger im Roggen" oder "Unknown Pleasures"
von Joy Division: Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete. Irgendwann hatte
ich davon gehört, aber die Information auf den stetig wachsenden Papierstapel
im Großhirn mit dem Schild "Klingt interessant, aber jetzt keine
Zeit dafür, den Gedanken weiter zu verfolgen" gelegt. Dann liegt
das Buch, das Album oder das Kinoprogramm vor einem, man erinnert sich an
den Zettelhaufen, greift zu und hat ein Erlebnis, das man den Rest seines
Lebens nicht mehr vergisst. "Night On Earth" habe ich seitdem wohl
mindestens zehnmal gesehen, auf der Leinwand, im Fernsehen oder auf DVD. Das
erste Mal war jedoch das eindrücklichste. Es war ein Freitag im Herbst
1992, ein Zivildiensttag war vorbei, Wochenende war frei, im Spätprogramm
des Provinzkinos lief also "Night On Earth", vom Regisseur hatte
ich noch nie was gehört, und daß Jim Jarmusch-Filme bis dahin nicht
synchronisiert wurden bzw. jede Synchronisation, vor allem bei "Night
On Earth", ein Verbrechen gewesen wäre, wußte ich damals auch
nicht. Ich war auf jeden Fall schwer beeindruckt von einem Film, in dem eigentlich
im Wesentlichen nur mit dem Taxi rumgefahren und geredet wird, als ich nachts
um halb eins im Regen zum Parkplatz zurückstolperte. So beeindruckt,
daß ich eine, aus heutiger Sicht etwas peinliche, Besprechung für
die zweite Ausgabe des Nonkonform-Fanzines schrieb.
Mit Jarmuschs Frühwerken "Stranger Than Paradise" (’84) und "Down
By Law" (’86) bin ich nie so richtig warm geworden, andere Werke mußten
erst reifen, und erschlossen sich mir erst mit zunehmenden Alter (aber hallo!).
Den "Dead Man"-Soundtrack (’95), mit der Gitarre von Neil Young und
Dialogen aus dem Film, höre ich mir immer noch gerne an, "Coffee And
Cigarettes" (’03) war in seiner scheinbaren Sinnfreiheit schlicht genial
und "Broken Flowers" (’05) war dann nach "Ghost Dog" (’99)
fast schon ein "richtiger" Film für ein breiteres Publikum.
Soviel zum fanzine-typischen Ego-Schreib, wenden wir uns der seriösen Buchkritik
zu:
Dem Buch von Roman Mauer liegt eine Doktorarbeit über die Filme Jim Jarmuschs
zugrunde. Als Folge dessen ist es klar gegliedert, was den Vergleich bestimmter
Aspekte der einzelnen Filme erleichtert. Zu jedem Film wird der Kontext in dem
er entstanden ist beleuchtet. Danach geht Mauer auf die Erzählstrategien
und –architekturen ein und versucht das "Thema" des Films zu umreißen.
Ein neuer Film von Jim Jarmusch ist von Fans schon nach wenigen Minuten als
solcher zu identifizieren, da Jarmusch einen eigenen Stil entwickelt hat, dessen
Eigenheiten man zwar intuitiv erkennt, aber schwer beschreiben kann. Eine Betrachtung
zur Kameraarbeit und auch zur in den Filmen verwendeten Musik will eben diesen
Stil in Worte fassen. Jedes Kapitel schließt mit Pressestimmen aus Deutschland,
Frankreich und dem englischsprachigen Raum (abgesehen von "Coffee and Cigarettes"
und "Broken Flowers", die nach Abschluß der Doktorarbeit angefügt
wurden).
Abgerundet wird das Ganze durch die bei wissenschaftlichen Arbeiten üblichen
Anmerkungen, die jedoch für das Verständnis des Textes nicht zwingend
notwendig sind, einer Filmographie, einer umfangreichen Bibliographie und einem
Index, der dazu einlädt, nach Verbindungen zu anderen Filmen oder Personen
der Popkultur zu suchen.
Ein gewisses Interesse an Filmgeschichte und -theorie sollte man mitbringen,
wenn man sich Roman Mauers Buch zulegen will, denn es handelt sich hier nicht
um "Das große CINEMA Jim Jarmusch Buch". "Jim Jarmusch
– Filme zum anderen Amerika" ist auch kein Buch über Jarmusch, sondern
eben über seine Filme, denen jeweils ca. 40 Seiten gewidmet sind, aufgelockert
und zum Wiedererinnern an die Filme mit kleinen Schwarz-Weiß-Fotos bebildert,
jedoch nicht mit den üblichen Promo-Fotos des Verleihs, sondern mit den
Text sinnvoll ergänzenden Screenshots der DVDs.
Manchmal geht Mauer zu sehr ins Detail, und Einzelaspekte werden in einer Ausführlichkeit
behandelt, die dem ursprünglichen Zweck des Werkes geschuldet ist. Aber
gut, man kann drüber weglesen, wenn man sich nicht davon angesprochen fühlt,
und stößt dann bald wieder auf Aufschlußreiches, wie die verbindenden
Details der "Night On Earth"-Episoden oder die literarischen Vorbilder
der Namen der Personen in "Broken Flowers".
Vielen Fans reicht es, sich der ganz eigenen Atmosphäre von Jim Jarmuschs
Filmen hinzugeben, und oft ist es ja so, daß Filme auf der emotionalen
Ebene am besten erfaßt werden.
Gerade Jarmuschs Filme sind dazu geeignet, daß man sich mit ihnen eingehender
beschäftigt, und wer das vorhat, erhält für 18,90 Euro sowas
wie ein Standardwerk im deutschsprachigen Raum.
Erschienen ist "Jim Jarmusch – Filme zum anderen Amerika" im Bender
Verlag.
Wer sich die Filme von Jim Jarmusch nach ausgiebiger Theorie-Lektüre dann auch mal kostengünstig ansehen möchte, sollte die Box von Kinowelt ins Auge fassen. Enthalten sind die Filme "Permanent Vacation", "Stranger Than Paradise", "Down By Law", "Mystery Train", "Night On Earth" (nicht nur für alle, die gerne Taxi fahren, ein Muß), "Dead Man" (Quasi-Western mit Johnny Depp), "Year Of The Horse" (Doku/Musikfilm über Neil Young), "Ghost Dog" und die Kurzfilmsammlung "Coffee And Cigarettes", in der sich Gaststars wie Tom Waits und Iggy Pop gegenseitig zurauchen, Kaffee in sich hineinschütten und dabei über genau dieses philosophieren. Zu den Filmen gibt's dann noch mehr oder weniger umfangreiche Extras, so daß sich die Box ganz formidabel als Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk eignet. Die Titel dürften auch einzeln erhältlich sein, falls jemand nur an einem bestimmten Film Interesse hat.
- Martin & Stefan - 03/07