1994,
zwei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Rio Reiser seine mit "Erinnerungen
an Ton Steine Scherben und mehr" untertitelte Autobiographie "König
von Deutschland". 1998 wurde mit "Ton Steine Scherben. Geschichten,
Noten, Texte und Fotos aus 15 Jahren" ein Buch von 1985, also aus der
Endphase der Scherben, wiederveröffentlicht. Und Kai Sichtermann, Bassist
der Scherben, gab im Jahr 2000 "Keine Macht für Niemand. Die Geschichte
der Ton Steine Scherben" heraus, ein durchaus unterhaltsames Buch mit
Hang zu Anekdoten, welches man wohl als DIE Bandbiographie sehen kann. Viele
Bandmitglieder und Leute aus dem engeren Umfeld der Scherben kommen darin
zu Wort. Rios Familie hat nach seinem Tod kräftig am seinem Mythos gewerkelt;
auf dem ehemaligen "Wohnsitz" der Scherben, dem Bauernhof in Fresenhagen,
wo Rio bis Februar 2011 auch begraben lag, wurde eine Art Gedenkstätte
errichtet, wo man sich auch tageweise einmieten konnte, und veranstaltete
regelmäßig einen Wettbewerb für den besten deutschen Song.
Das kann man gut finden oder sich fragen, was das mit der Agitpop-Band der
frühen 70er Jahre zu tun hat bzw. wer sowas eigentlich braucht. Nach
dem Verkauf des Hofes wurde Rio Reiser auf einen Friedhof in Berlin umgebettet.
Eine Scherben-Reunion-Band "Scherbenfamily"
tourt regelmäßig durch Deutschland.
Bei der ist Wolfgang Seidel nicht dabei, wohl aber war er es beim Scherben-Vorläufer,
dem Lehrlingstheater "Rote Steine" und als Schlagzeuger der ersten
Scherben-Single "Macht kaputt, was euch kaputt macht" und des ersten
Scherben-Albums "Warum geht es mir so dreckig?" von 1971. In Kai Sichtermanns
Buch wurde er nicht zum Interview gebeten und kommt dort eher als Randfigur
vor.
Vielleicht, weil sich Wolfgang Seidel daran erinnert, daß TSS mehr waren,
als eine Deutschrock-Band mit einer irgendwie politschen Aussage.
Das Buch, das er im Ventil-Verlag
herausgegeben hat, versucht, einen Gegenpol zur Verklärung und Entpolitisierung
von TSS zu setzen, ohne deren Ideale lächerlich zu machen oder als ideologische
Kuriositäten im Sinne von "So waren wir halt damals" abzutun.
Der Titel "Scherben" kann programmatisch gesehen werden, da viele
unterschiedliche Essays und Interviews zur Geschichte, insbesondere der Frühzeit
von TSS, zu den politischen Bewegungen der späten 60er und frühen
70er Jahre und zur Wirkung der Band bis in die heutige Zeit bzw. deren Vereinnahmung
durch Kreise, mit denen die Band niemals etwas zu tun haben wollte, ein Mosaik
bilden, das differenzierter ist, als eine bloße Bandbiographie.
Im Zentrum des Buchs stehen die beiden längeren Texte von Wolfgang Seidel
selbst. Im ersten stellt er den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Deutschlands
der 60er Jahre vor und die ersten Ansätze von Gegenkultur; eine Zeit also,
die die meisten Leser seines Buches wohl nicht mehr persönlich miterlebt
haben, viele wurden vielleicht gerade geboren, als TSS ihr erstes Album rausbrachten.
Der zweite Text greift den Zwiespalt auf, in dem sich die Scherben zeitlebens
befanden: Der politische Anspruch, denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht
gehört werden und damit eine Veränderung herbei zu führen und
der Wunsch, eine Rockband zu sein, die zudem stilistisch wenig revolutionäre
Rockmusik spielte (insofern waren TSS auch nicht die "erste deutsche Punkband").
Zur politischen Wirkung von TSS zu Beginn des 21. Jahrhunderts schreibt Wolfgang
Seidel: "Fünfzehn Jahre nach Auflösung der Scherben stellt
sich diese Frage nach der politischen Praxis nicht mehr. Was immer mal da war
- es ist mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Alles was bleibt, ist eine
von jedem Kontext befreite und gerade deswegen in alle Richtungen verkäufliche
rebellische Pose, die wahlweise den Narren am Hofe von Rot-Grün, den Soundtrack
für eine NPD-Demo oder einfach nur das Sedativum fürs ungestörte
Träumen abgibt". Auch relativiert er ein paar der Mythen, die
im Laufe der Jahre um die Band gesponnen wurden, so z. B. die Geschichte, das
TSS für den Brand beim "Fehmarn Pop Festival" 1970, verantwortlich
waren, oder jene mit der Bestellung eines "Songs für den bewaffneten
Kampf" durch die RAF.
Interessant ist der Text von Andre Greiner-Pol von der Band Freygang (auf der
CD von Konzert "Abschied von Rio" nach Rio Reisers Tod mit "Ich
will nicht werden, was mein Alter ist" zu hören), der die Wirkung
von Ton Steine Scherben in der DDR beschreibt. Mag für viele neu sein,
daß es im Arbeit- und Bauernstaat auch so etwas wie eine Untergrundszene
gab, nur halt mit Rotwein statt Haschisch und Gefängnis statt Stubenarrest.
Eine Art Nachruf ist das Interview mit Britta Neander, die mit den Scherben
in Fresenhagen lebte und danach die Frauenband Carambolage gründete: sie
starb im Dezember 2004.
Was "Scherben" von den anfangs erwähnten Büchern am meisten
unterscheidet, sind Aufsätze zu bestimmten Aspekten in den Texten von TSS,
auf die sich deren Epigonen, u. a. Wir Sind Helden, beziehen, z. B. zur Konsumkritik
(cooles Photo: Rio mit Einkaufswagen im Supermarkt, das beweist, das bei den
Scherben auch legal eingekauft wurde). Oder zur Umdeutung linker Parolen durch
Neonazis ("Allein machen sie dich ein" wird gerne auf NPD-Demos gespielt),
was auch am etwas naiven "Volks"-Begriff bei TSS liegt. Wolfgang Seidel,
als Sohn eines Polizisten aus Kreuzberg, also mit weniger bildungsbürgerlichem
Hintergrund, als z. B. Rio Reiser, wußte, daß "das Volk"
oder "der Proletarier" an die sich TSS mit ihren Texten, zumindest
in der Frühphase, wandten, nicht per se gut und edel sind, allein schon
in Hinblick darauf, was diese wenige Jahrzehnte zuvor zugelassen, wenn nicht
gar unterstützt hatten.
Für die Fan-Seite kommt Robert Kneschke zu Wort, der mit www.riolyrics.de
eine der umfangreichsten Homepages zu TSS und Rio Reiser betreibt.
"Scherben" ist eine wichtige und notwendige Ergänzung zu Kai
Sichtermanns "Keine Macht für Niemand"-Buch und mit 14,90 Euro
eine lohnendere Anschaffung, als die nächste Scherben-Tribute-Compilation
und wahrscheinlich auch besser angelegt, als die Eintrittskarte fürs Konzert
der Kelly Scherben-Family.
Wer noch mehr über die Protestbewegung der 70er Jahre in Deutschland wissen
möchte, sei der persönliche Rückblick "Keine Ruhe nach dem
Sturm" von Ulrike Heider (erschienen 2001 bei Rogner & Bernhard) empfohlen.
- Martin - 12/05
Mehr zu den Scherben im ZWNN hier