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Wolfgang Seidel (Hrsg.) - Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben (2005)

1994, zwei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte Rio Reiser seine mit "Erinnerungen an Ton Steine Scherben und mehr" untertitelte Autobiographie "König von Deutschland". 1998 wurde mit "Ton Steine Scherben. Geschichten, Noten, Texte und Fotos aus 15 Jahren" ein Buch von 1985, also aus der Endphase der Scherben, wiederveröffentlicht. Und Kai Sichtermann, Bassist der Scherben, gab im Jahr 2000 "Keine Macht für Niemand. Die Geschichte der Ton Steine Scherben" heraus, ein durchaus unterhaltsames Buch mit Hang zu Anekdoten, welches man wohl als DIE Bandbiographie sehen kann. Viele Bandmitglieder und Leute aus dem engeren Umfeld der Scherben kommen darin zu Wort. Rios Familie hat nach seinem Tod kräftig am seinem Mythos gewerkelt; auf dem ehemaligen "Wohnsitz" der Scherben, dem Bauernhof in Fresenhagen, wo Rio bis Februar 2011 auch begraben lag, wurde eine Art Gedenkstätte errichtet, wo man sich auch tageweise einmieten konnte, und veranstaltete regelmäßig einen Wettbewerb für den besten deutschen Song. Das kann man gut finden oder sich fragen, was das mit der Agitpop-Band der frühen 70er Jahre zu tun hat bzw. wer sowas eigentlich braucht. Nach dem Verkauf des Hofes wurde Rio Reiser auf einen Friedhof in Berlin umgebettet. Eine Scherben-Reunion-Band "Scherbenfamily" tourt regelmäßig durch Deutschland.
Bei der ist Wolfgang Seidel nicht dabei, wohl aber war er es beim Scherben-Vorläufer, dem Lehrlingstheater "Rote Steine" und als Schlagzeuger der ersten Scherben-Single "Macht kaputt, was euch kaputt macht" und des ersten Scherben-Albums "Warum geht es mir so dreckig?" von 1971. In Kai Sichtermanns Buch wurde er nicht zum Interview gebeten und kommt dort eher als Randfigur vor.
Vielleicht, weil sich Wolfgang Seidel daran erinnert, daß TSS mehr waren, als eine Deutschrock-Band mit einer irgendwie politschen Aussage.
Das Buch, das er im Ventil-Verlag herausgegeben hat, versucht, einen Gegenpol zur Verklärung und Entpolitisierung von TSS zu setzen, ohne deren Ideale lächerlich zu machen oder als ideologische Kuriositäten im Sinne von "So waren wir halt damals" abzutun. Der Titel "Scherben" kann programmatisch gesehen werden, da viele unterschiedliche Essays und Interviews zur Geschichte, insbesondere der Frühzeit von TSS, zu den politischen Bewegungen der späten 60er und frühen 70er Jahre und zur Wirkung der Band bis in die heutige Zeit bzw. deren Vereinnahmung durch Kreise, mit denen die Band niemals etwas zu tun haben wollte, ein Mosaik bilden, das differenzierter ist, als eine bloße Bandbiographie.
Im Zentrum des Buchs stehen die beiden längeren Texte von Wolfgang Seidel selbst. Im ersten stellt er den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Deutschlands der 60er Jahre vor und die ersten Ansätze von Gegenkultur; eine Zeit also, die die meisten Leser seines Buches wohl nicht mehr persönlich miterlebt haben, viele wurden vielleicht gerade geboren, als TSS ihr erstes Album rausbrachten. Der zweite Text greift den Zwiespalt auf, in dem sich die Scherben zeitlebens befanden: Der politische Anspruch, denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden und damit eine Veränderung herbei zu führen und der Wunsch, eine Rockband zu sein, die zudem stilistisch wenig revolutionäre Rockmusik spielte (insofern waren TSS auch nicht die "erste deutsche Punkband"). Zur politischen Wirkung von TSS zu Beginn des 21. Jahrhunderts schreibt Wolfgang Seidel: "Fünfzehn Jahre nach Auflösung der Scherben stellt sich diese Frage nach der politischen Praxis nicht mehr. Was immer mal da war - es ist mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Alles was bleibt, ist eine von jedem Kontext befreite und gerade deswegen in alle Richtungen verkäufliche rebellische Pose, die wahlweise den Narren am Hofe von Rot-Grün, den Soundtrack für eine NPD-Demo oder einfach nur das Sedativum fürs ungestörte Träumen abgibt". Auch relativiert er ein paar der Mythen, die im Laufe der Jahre um die Band gesponnen wurden, so z. B. die Geschichte, das TSS für den Brand beim "Fehmarn Pop Festival" 1970, verantwortlich waren, oder jene mit der Bestellung eines "Songs für den bewaffneten Kampf" durch die RAF.
Interessant ist der Text von Andre Greiner-Pol von der Band Freygang (auf der CD von Konzert "Abschied von Rio" nach Rio Reisers Tod mit "Ich will nicht werden, was mein Alter ist" zu hören), der die Wirkung von Ton Steine Scherben in der DDR beschreibt. Mag für viele neu sein, daß es im Arbeit- und Bauernstaat auch so etwas wie eine Untergrundszene gab, nur halt mit Rotwein statt Haschisch und Gefängnis statt Stubenarrest.
Eine Art Nachruf ist das Interview mit Britta Neander, die mit den Scherben in Fresenhagen lebte und danach die Frauenband Carambolage gründete: sie starb im Dezember 2004.
Was "Scherben" von den anfangs erwähnten Büchern am meisten unterscheidet, sind Aufsätze zu bestimmten Aspekten in den Texten von TSS, auf die sich deren Epigonen, u. a. Wir Sind Helden, beziehen, z. B. zur Konsumkritik (cooles Photo: Rio mit Einkaufswagen im Supermarkt, das beweist, das bei den Scherben auch legal eingekauft wurde). Oder zur Umdeutung linker Parolen durch Neonazis ("Allein machen sie dich ein" wird gerne auf NPD-Demos gespielt), was auch am etwas naiven "Volks"-Begriff bei TSS liegt. Wolfgang Seidel, als Sohn eines Polizisten aus Kreuzberg, also mit weniger bildungsbürgerlichem Hintergrund, als z. B. Rio Reiser, wußte, daß "das Volk" oder "der Proletarier" an die sich TSS mit ihren Texten, zumindest in der Frühphase, wandten, nicht per se gut und edel sind, allein schon in Hinblick darauf, was diese wenige Jahrzehnte zuvor zugelassen, wenn nicht gar unterstützt hatten.
Für die Fan-Seite kommt Robert Kneschke zu Wort, der mit www.riolyrics.de eine der umfangreichsten Homepages zu TSS und Rio Reiser betreibt.
"Scherben" ist eine wichtige und notwendige Ergänzung zu Kai Sichtermanns "Keine Macht für Niemand"-Buch und mit 14,90 Euro eine lohnendere Anschaffung, als die nächste Scherben-Tribute-Compilation und wahrscheinlich auch besser angelegt, als die Eintrittskarte fürs Konzert der Kelly Scherben-Family.
Wer noch mehr über die Protestbewegung der 70er Jahre in Deutschland wissen möchte, sei der persönliche Rückblick "Keine Ruhe nach dem Sturm" von Ulrike Heider (erschienen 2001 bei Rogner & Bernhard) empfohlen.

- Martin - 12/05