Jach.
. . .da kann der Winter auch noch so dunkel, grau, kalt und garstig sein,
er verliert sofort seinen Schrecken, wenn man sich unter die heimische Bettdecke
kuscheln kann und sich von der Phantasie eines Autors bei der Hand nehmen
und in von ihm ersonnene fremde und interessante Welten entführen läßt.
Wenn die Reise dann, wie in diesem Fall, eine wirklich schier unendliche Geschichte
zu werden verspricht, na, umso besser! Ihr kennt das sicher, man mag dann
nur sehr ungern davon ablassen und möchte sie, so sie zu faszinieren
versteht, kontinuierlich weiter verfolgen. Nun mag ein besonnener und bodenständiger
Verstand an dieser Stelle Bedenken anmelden, von Suchtpotential reden und,
gar nicht mal sooo zu unrecht, wie ich bestätigen muß, mit Schlagworten
wie Eskapismus und Realitätsflucht argumentieren wollen. All dies ist
mir bekannt und ich für meine Person wähle desöfteren bewußt
eine der vielen Möglichkeiten, die Realitätsebene zu wechseln. Genau
dies scheint, wie im NK schon erwähnt, einem Grundbedürfnis des
menschlichen Bewußtseins zu entsprechen - die eigene begrenzte Person
und Identität, die eigenen, durch die gegebene Umwelt beschränkten
Lebens- und Erfahrungsmöglichkeiten und, ja, den leider oftmals allzu
grauen und banalen Alltag hinter sich zu lassen, kurz, den einen Schein mit
einem anderen, verzaubernden, zu vertauschen. Geschichten in Büchern
(aber auch: Filme, Musiken, Tänze, Naturtrips und vieles andere mehr,
gerne auch kombiniert mit diversen Rauschmitteln, können die Weltwahrnehmung
verklären, den eigenen Daseinshorizont überschreiten lassen) oder
in anderer Form vermittelt, boten den Menschen schon immer beste Gelegenheit
sich zu phantastischen Abenteuern mit ebensolchen Bewohnern und Wesen in ebensolchen
Ländern davonzuträumen.
Und, mal grundsätzlich gefragt, was ist denn die eigentliche Realität?
Ist nicht alles Wahrgenommene gleichsam wahrhaftig? Nur weil wir alle mehr
oder weniger in der sinnlichen Wahrnehmung dieses unseren Daseins auf einer
materiellen Ebene übereinstimmen, muß diese Tatsache nicht zwingend
zu der Schlußfolgerung eines alleingültigen Realitätsanspruches
verleiten. Zumal alleine schon die objektiv gegebene Umgebung von jeder Spezies,
von jedem Lebewesen, subjektiv völlig unterschiedlich erfahren wird.
Und weitergehend zeigt sich die materielle Ebene, wie wir aus den Ergebnissen
und Schlußfolgerungen der Quantenphysik wissen, überraschenderweise
als ungleich scheinhafter, als sie es unseren trägen Sinnen vorgaukelt.
Dort, im tiefen Grunde der Stofflichkeit, ist das einzig wirklich Beständige
das Quantenfeld, aus dem alle subatomaren Teilchen hervor- und wiederum darin
aufgehen, tanzende Energie, in ständiger Erschaffung und Zerstörung
begriffen. Dies einheitliche, undifferenzierte Feld, aus dem die Ordnung und
Struktur des Universums entspringt, gleicht übrigens erstaunlich den
alten chinesischen Vorstellungen des Tao, wie auch der des buddhistischen
Nirwana. Kurz gesagt, um mal auf den Punkt zu kommen, die moderne Naturwissenschaft
sagt uns: Materie hat keine absolute Beständigkeit. So etwas wie Teilchen
gibt es nicht, niemand hat da jemals etwas Greifbares, das nicht sofort in
kleinere Wirkungen zerfallen würde, gefunden - Materie ist Nichts, ist
Leere. Eine schier undurchschaubare Illusion, und dennoch nichts als eine
Illusion. Quantenphysiker, welche diesen Text nun zufällig lesen sollten,
seinen eingeladen, eventuelle, sich eingeschlichen habende gedankliche Sockenschüsse
zu berichtigen, ich weiß, daß ich mich mit diesen Passagen weit
aus dem Fenster lehne, bin aber recht sicher, es ist alles korrekt wieder
gegeben und zu Ende gedacht. Aus meiner Sicht sind Träume, Phantasien
oder mystische Visionen und Zustände nicht weniger real, als das Haus
am Ende der Straße. Daß die beruhigende Verläßlichkeit
und Sicherheit der stofflichen Wirklichkeit, zu der man immer wieder zurückkehren
kann, etwas durchaus positives ist, wie jeder Psychotiker wohl gerne bestätigen
würde, möchte ich mit solchen Aussagen gar nicht in Abrede stellen,
ich wehre mich nur gegen Ansichten, die häufig ein Verhalten unterschwellig
als leicht pathogen hinstellen, das eher introvertiert oder introspektiv,
also nach Innen gewandt, veranlagt ist.
Wozu außerdem das menschliche Bewußtsein befähigt ist, welche
Dimensionen es umfaßt, ja, was es in seinem Innersten wirklich ist,
wird jeder erkennen und vielleicht sogar erfahren dürfen, der sich nur
eingehend genug damit beschäftigt.
Was den scheinbaren Gegensatz zwischen Traum (oder Phantasie) und Wirklichkeit
angeht, so muß ich einfach abermals, wie schon in NK 3, diesbezüglich
good ol' H. P. Lovecraft zu Worte kommen lassen, der in "Die Katzen von Ulthar"
sinniert, "daß das ganze Leben nur eine Folge von Bildern im Gehirn
(na, bißchen unglücklich gewählt vielleicht, dieser Begriff,
kann man aber noch gelten lassen, da man bei Lovecraft ja weiß, wie's
gemeint ist - H.) ist, wobei kein Unterschied besteht zwischen jenen, die
realen, und jenen, die inneren Visionen entspringen, und also auch kein Grund
vorliegt, die einen höher als die anderen einzustufen". Eine Aussage,
die, wie ich finde, man ob ihrer revolutionären Botschaft durchaus mehrere
Male betonen kann und sollte.
Und dann gibt es noch eine weise und zugleich humorige kleine Erzählung
gleichen Inhalts aus dem alten China namnes "Herr Wu und der Schmetterling",
welche davon handelt, wie Herr Wu in mehreren aufeinander folgenden Nächten
kontinuierlich davon träumte, ein Schmetterling zu sein, sich vollkommen
mit diesem Insektenleben identifizierte, fühlte und handelte wie ein
Schmetterling, über grüne sommerliche Wiesen flatterte, von allerlei
Blumen angezogen wurde, aus deren Blüten er den Nektar trank, und so
weiter. . . . . . dies führte dann so weitgehend, daß Herr Wu eines
morgens erwachte, und tatsächlich nicht mehr zu unterscheiden wußte:
war er nun Herr Wu, der träumte, ein Schmetterling zu sein - oder aber,
war er nun ein Schmetterling, der träumte, Herr Wu zu sein......
Zugegeben, wenn man die verschiedenen Dimensionen nicht mehr auseinader halten
kann, wie im Falle Herrn Wus, ist die dünne Linie der Grenze zur Psychose
schon überschritten, die Geschichte will aber nur die Relativität
derselben verdeutlichen.
So, nach dieser vorangestellten kleinen, aber mir wichtigen Exkursion über
Geschichten, Eskapismus und Realitätsebenen, wollen wir nun endlich beschreibenderweise
zu jenem Objekt vordringen, dessenwegen ihr hier eigentlich reingegeklickt
seid - Tad Williams Legende über das sagenhafte Land Osten Ard.
Den Namen dieses Autors hatte ich schon einige Male freundlich erwähnt
gefunden und darauf hin im Hinterkopf als interessant abgespeichert. Beim
stöbern in den Regalen unserer örtlichen Bücherei durfte ich
erfreut diesen vollständigen Roman-Zyklus entdecken, auf den ich mich
dann nach kurzem Zögern, ob seines beeindruckenden Umfanges von etwa
3400 Seiten, einließ. Ich habe es nicht bereut. Wenn die ersten hundertfünfzig
bis zweihundert Seiten sich auch, wie ich warnend hinzufügen muß,
sehr zähflüssig gebärden, bis dann die Handlung endlich in
Bewegung gerät. Diese in ein paar Sätzen zusammen zu fassen, ist
kein einfaches Unterfangen. Sie entfaltet sich in einem mittelalterlichen
Szenario, nach dem Tode eines großen Herrschers, der zwei Söhne
hinterläßt, deren älterer, sein Nachfolger als Hochkönig,
unter dem Einfluß seines dämonischen Ratgebers, das Reich Osten
Ard voll in die Scheiße reitet. Worauf der jüngere Sohn eine Revolution
gegen die Mißherrschaft seines Bruders anführt, zumal sich bald
herausstellt, daß im Hintergrund eine weit größere Bedrohung
für die Menschen lauert und die Fäden zieht, nämlich der untote
Geist des Feen-Prinzen Ineluki, der auf Rückkehr und fürchterliche
Rache an dem Volk sinnt, das sein eigenes und ihn dereinst vertrieb und tötete.
Nun, die ganze epische Story klingt in zwei Sätze geschnürt recht
platt, was der doch ziemlich komplexen, von allerlei exotischen Wesen und
Rassen bevölkerten Welt, welche Williams mit leichter Hand hier erschafft,
unrecht tut. Sowohl die unzähligen Protagonisten, wie etwa der junge
Simon, Prinz Josua und ihre in eine weit verzweigte Odyssee getriebenen Mitstreiter,
als auch die Handlung, welche sich teilweise in sieben, acht, neun parallelen
Strängen entwickelt, sind durchaus vielschichtig angelegt. Unbestreitbar,
daß eine große inspirative Quelle für Williams die Mutter
aller Fantasy-Stories, "Der Herr der Ringe", gewesen sein muß. Alle
klassischen Geschichten dieses Genres müssen sich wohl, ob das nun den
Autoren recht ist oder nicht, die Vermutung des Vorbildcharakters von J. R.
R. Tolkiens meisterlichem Epos gefallen und sich mit diesem vergleichen lassen.
Quantitativ hat Williams es mit seiner Saga ("die Geschichte, die mein Leben
auffraß...", wie er ironisch bemerkte) bei weitem übertroffen (man
braucht, grob geschätzt, vielleicht 160 - 180 Stunden Realzeit, um sie
zu durchqueren), und auch qualitativ würde ich sie kaum darunter ansiedeln.
Sprachlich ist Williams absolut versiert, desöfteren zum Beispiel hat
er elegante, beeindruckende, mir mindestens ein anerkenndes Hochziehen der
Augenbrauen entlockende Metaphern, bildhafte Umschreibungen, so ganz nebenbei
eingeflochten.
Holt also euren Hut und Wanderstab, die Kristallkugel und das Breitschwert,
all die schon angestaubten Utensilien aus dem Wandschrank, wenn ihr mal wieder
das Verlangen verspüren solltet, eine Reise jenseits eures bekannten
Lebenskreises zu tun und dabei nahezu unglaubliche Abenteuer zu erleben -
und warum diese auch nicht mal nach Osten Ard...?
Interessanter als Mallorca dürfte es allemal werden...
- Heiko - 02/01
Die
Tetralogie bei Wikipedia
Osten-Ard
und mehr über Tad Williams