19. September 2004: Hier stehe ich nun also endlich in der Stuttgarter
Schleyerhalle und warte auf den Beginn des RUSH-Konzerts. Zwölf lange
Jahre ist es her, daß diese Ausnahmeband zum letzten Mal in unseren
Breiten gastiert hatte, und genauso wie damals hat man den Eindruck, daß
auch dieses Konzert nicht ganz ausverkauft ist; genauso wie damals in der
Nürnberger Frankenhalle trennt ein schwarzer Vorhang das hintere Viertel
der Halle ab. Woran mag das nur liegen? Immerhin dürfte ein nicht geringer
Anteil der hier Anwesenden zu den Betroffenen der Absage des Münchener
Konzertes zählen.
Lange erwartet, oft herbeigesehnt, angesichts einiger nicht erfüllter
Tourversprechen hierzulande beinahe verteufelt... und wenn dann doch einmal
livehaftig im Lande, dann nur vor eher spärlich besuchten Hallen spielend
– kann so etwas einer "Göttercombo" würdig sein?
Freilich,
für mich persönlich waren Konzerte des genialen kanadischen Triumvirats
schon immer mit besonderen Herausforderungen gekoppelt: Ich erinnere mich
mit Grausen an den ÖTV-Streik, der am 28. April 1992 ganz Nürnberg
lahmlegte und der das Erreichen der Frankenhalle zu einem veritablen Glücksspiel
machte, und auch diesmal war es angesichts der kurzfristigen, eher öffentlichkeitsunwirksamen
Absage des vermeintlich ausverkauften Münchener Konzerts nur unwesentlich
unkomplizierter, hierher zu gelangen. Damals wie heute war dies überhaupt
nur dank des engagierten Einsatzes einiger enthusiastischer Mit-Fans möglich.
Scheint fast so, als ob man sich das Ereignis, RUSH live zu sehen, hart
erarbeiten muß, und wenn dann, wie vor zwei Jahren geschehen, eine
in Aussicht gestellte Europatournee zugunsten einer – wohl wesentlich lukrativeren-
US-Tourverlängerung abgesagt wird, stößt man schnell an
die Grenzen dessen, was es bedeutet, Fan einer Kultband zu sein. Okay, durch
Neil Pearts "Ghostrider"-Buch
(Rezension an anderer Stelle in diesem Magazin) wurde vieles transparenter,
und zumindest für mich verzeihlich. Aber es könnte durchaus im
Bereich des Möglichen liegen, daß sich RUSH durch Ihr kategorisches
Nichterscheinen hierzulande viel Kredit verspielt haben. Dazu noch die fadenscheinigen
Begründungen für die jüngste Konzertabsage... Irgendwann
resigniert man wohl einfach.
Oder ist es einfach nur so, daß diese doch sehr polarisierende Band
einfach lyrisch zu anspruchsvoll und musikalisch zu komplex ist für
die breiten Massen?
Doch wie ist dann die Tatsache zu erklären, daß man im tumben
Amiland regelmäßig größte Stadien füllt, während
man die alte Welt mit einer Handvoll Auftritten hinreichend bedienen kann?
Daß diese Post-Prog-Band (wie sie sich selbst bezeichnen) im einstigen
Land der Dichter und Denker und der großen Komponisten ein kommerzielles
Schattendasein zu führen scheint, wo man sich doch gerade hierzulande
immer noch selbstgefällig auf längst verlorenen Standards ausruht?
Ist man bei uns inzwischen einfach zu abgestumpft, zu übersättigt
und zu überheblich, um Qualität überhaupt noch als solche
erkennen zu können? Wären da nicht doch hin und wieder Chart Entries
von Bands wie Spock´s Beard oder Dream Theater zu verzeichnen, könnte
man schon ins Grübeln kommen...
Vielleicht liegt es aber auch einfach nur daran, daß RUSH stilistisch
noch nie so recht in eine Schublade passen wollten (oder in einer Schublade
längere Zeit verweilen wollten).
Zu Beginn ihrer Karriere Anfang der Siebziger noch ganz im bluesorientierten
Hardrock à la Led Zeppelin verhaftet, erweiterten die drei Kanadier
ihr Repertoire bald um überlange epische Stücke, sie ertüftelten
Konzepte, die sich über ganze LP-Seiten hinzogen, bevor sie um 1980
dazu übergingen, eingängigeres Material zu schreiben, was in Hits
wie "The Spirit of Radio" und "Tom Sawyer" gipfelte.
Daran schloß sich eine stark Synthesizer-lastige Phase an, bis man
Ende der Achtziger wieder gitarrenorientierter wurde; ein Trend, der sich
bis heute fortgesetzt hat und die Band mehr und mehr in einer nie dagewesenen
Heavyness präsentiert. Was die Band aber über alle Schaffensphasen
hinweg auszeichnete, gewissermaßen der rote Faden, ist die Güte
ihrer Melodien, die trotz aller Komplexität immer ihren Weg in das
Ohr des Hörers finden und in packenden Songs auf höchstem musikalischen
Niveau zelebriert werden.
RUSH – das sind nun einmal in allererster Linie drei Ausnahmekönner
an ihren Instrumenten. Geddy Lee ist wohl DER Rockbassist schlechthin mit
seinen filigranen, knarzenden Läufen. Und seine Fähigkeit, gleichzeitig
Basspedals und Keyboards zu bedienen und dazu auch noch zu singen, nötigt
einem schon allerhöchsten Respekt ab. Und sieht man einmal von seinem
bisweilen nervenstrapazierenden Falsett zu Anfang der Bandkarriere ab, hat
er sich schon längst zu einem Vokalisten der Extraklasse gemausert.
Alex Lifeson ist trotz seiner eher unscheinbaren Präsenz ein enorm
unterschätzter Saitendehner; gerade wenn man bedenkt, aus welch komplexen
Instrumentalstrukturen die Songs des Trios bestehen, wird sein Status als
SoloGitarrist erst faßbar! Und Neil Peart als Präzisionsmaschine
hinter seinem fast schon multidimensionalen Drumkit ist ohnehin über
jeden Zweifel erhaben und wird unter Rockschlagzeugern wie ein Halbgott
verehrt. Noch dazu ist er ein brillanter Lyriker, der es wie kaum ein Zweiter
versteht, kryptische Konzepte schlüssig zu reimen, Lebenserfahrungen
zu verbalisieren, Literarisches zu entkomplizieren und mit alledem auch
noch Sinn zu stiften.
Eigentlich sollte man meinen, daß sich die Massen um Tickets für
Events des Ahornblatts prügeln müßten!
Während sich in Stuttgart die Halle füllt, Fachsimpeleien und
Frotzeleien die Runde machen, bleibt noch ein wenig Zeit, sich die fast
schon spartanisch bestückte Bühne zu betrachten. Im Halbdunkel
lassen sich neben den üblichen Aufbauten auch noch zwei Wäschetrockner
(in denen Geddy Lees Bassamps untergebracht sind) und ein Snackautomat ausmachen.
Was sie damit wohl bezwecken wollen?
Schließlich ist es soweit: Mit einem witzig gemachten Video, in
dem ein gesetzter älterer Herr - wie sich mir inzwischen erschlossen
hat, handelt es sich hierbei um den für seine schrägen Rollen
bekannten US-Komiker Jerry Stiller - seine Anekdoten über die RUSH-Musiker
vom Stapel lässt und in dem man sämtliche Cover der Alben in einer
Art Collage Revue passieren läßt, wird die Show eingeläutet.
Der Erzähler schließt "I hope they will play `Bangkok´!",
die Wäschetrockner laufen an, und schon ist man mittendrin in einem
Riffgewitter erster Güte. RUSH machen gleich zu Beginn unmißverständlich
klar, welche Songs an diesem Abend schon einmal nicht in voller Länge
zur Aufführung kommen werden, indem sie ihre prägnantesten Riffs
der Siebziger in einem viertelstündigen Instrumentalmedley verbraten.
Schlicht und ergreifend genial, und dementsprechend tobt die Halle auch.
Schon jetzt wird ersichtlich, mit welcher unbändigen Spielfreude die
Band diesmal zu Werke gehen wird. Kein Vergleich zu den etwas hüftsteifen,
beinahe schon sterilen Konzerten ihrer perfektionistischen Nineties-Phase!
Nahtlos im Anschluß folgt mit "The Spirit of Radio" einer
der Klassiker schlechthin, die Halle singt lautstark mit, die Gänsehaut
wird immer dicker... Was soll da noch kommen? Geddy Lee begrüßt
das Publikum, wirft sogar ein paar Brocken Deutsch ein, und was dann folgt,
müßte alle Nörgler und Kritiker der Band auf ewig verstummen
lassen: Mit schier unfaßbarer Präzision spielt die Band ein Best
of-Programm, durchsetzt mit ein paar unerwarteten Perlen wie z.B. "Between
the Wheels" oder "Mystic Rhythms", gewürzt mit guter
Laune und tollen Effekten.
RUSH
haben ihren Set im Vergleich zur "RUSH in Rio"-CD/DVD komplett
umgekrempelt und kombinieren älteres und neueres Material derart geschickt
und in einem beinahe schon unverschämt rockigen Gewand, so daß
zwischen Songs wie "Earthshine", "Red Barchetta" oder
"Bastille Day" eben nicht Jahre oder gar Jahrzehnte liegen; alles
klingt wie aus einem Guß, und man merkt der Band an, welchen Spaß
sie am Spielen hat; speziell Geddy Lee wirbelt wie ein Jungspund über
die Bühne und sorgt mit seiner überaus sympathischen Ausstrahlung
für gute Stimmung im Publikum und bei seinen Kollegen. Die Power mit
der man zu Werke geht, fordert allerdings ihren Tribut, und man entläßt
die Fans in eine kurze Pause. Fazit der ersten Halbzeit: Hymnen für
die Ewigkeit, Feeling pur und so etwas wie eine tiefe Zufriedenheit (wenn
auch ein klein wenig getrübt durch eine viel zu lahme Version von "Animate").
Den Auftakt der zweiten Halbzeit markiert erneut ein Videoclip, diesmal
im Stile von Knetgummifiguren-Kinderzeichentrickfilmen, in dem der Drache,
das Tourmaskottchen, eine tragende Rolle spielt. Musikalisch geht es weiter
wie gehabt ("Dreamline" neben "Tom Sawyer" neben einem
nie mehr erwarteten "Xanadu"; besonders beeindruckend: Die ungeheuer
stimmungsvolle Unplugged-Version von "Resist" ), nur daß
jetzt vermehrt Songs von der zu promotenden aktuellen CD mit gecoverten
Rockstandards im Programm auftauchen. Geddy Lee posiert mit einem Stoffpapagei
auf der Schulter, Alex Lifeson tobt sich bei "La Villa Strangiato"
dermaßen aus (so traktiert er z.B. seine Gitarre mit einem Gartenzwerg),
daß sogar der über die gesamte Dauer des Auftritts ungemein konzentriert
wirkende "Dynamo" Neil Peart sich ein feistes Grinsen nicht verkneifen
kann.
Nach knapp drei Stunden reiner Spielzeit ist dann allerdings allmählich
Schluß mit lustig, und mit zwei weiteren Coversongs und "Limelight"
als Zugaben beendet man den Abend. Geddy Lee zerrt noch einige T-Shirts
aus den Wäschetrocknern und wirft sie in die Menge, die Band läßt
sich feiern und verschwindet dann endgültig.
Gerade als man sich zum Gehen wenden will, flackert die Videoleinwand noch
einmal auf und der wohlbekannte ältere Herr meldet sich erneut zu Wort.
Zufrieden legt er sich schlafen und murmelt: "And they played Bangkok!"
Nein, Alterchen, haben sie nicht! Oder zumindest nur auszugsweise. Und sie
haben auch nicht "Closer to the Heart" gespielt. "Witch Hunt"
auch nicht. Oder "The Pass". Und jeweils nur einen Song von der
"Permanent Waves", der "Signals", der "Hold your
Fire", der "Counterparts", der "Test for Echo",
gar keinen von der "Presto"... Zu viele Covers? Ja vielleicht.
Aber es war enorm unterhaltsam, und bei dem Fundus aus 30 Jahren Bandgeschichte
wird wohl immer irgendein Song vermißt werden, selbst bei einer Spielzeit
von fünf Stunden.
Glücklicherweise hat dieses Konzert eine ungeheure Langzeitwirkung
wie sich inzwischen herausgestellt hat. Immer wieder durchzuckt ein kleiner
Blitz die grauen Zellen und fördert Konzerteindrücke zutage, öffnet
Türchen in der Seele und läßt einen glückselig strahlen.
Ich persönlich gehe einmal davon aus, daß RUSH wohl kaum noch
einmal in Deutschland touren werden. Zu viel Aufwand, zu geringe Resonanz...
An sich mehr als nur schade. Aber ich habe sie in Bestform gesehen, und
viele andere (und dennoch viel zu wenige) ebenfalls. Also was soll´s? Einfach
auch mal zufrieden sein.
Einstweilen ein "Farewell to Kings", und vielleicht sieht man
sich ja noch mal im tumben Amiland. Oder gleich in Kanada.
Playlist:
Set 1: | Set 2: |
Medley: | Tom Sawyer |
- Finding My Way | Dreamline |
- Anthem | Secret Touch |
- Bastille Day | Between the Wheels |
- A Passage To Bangkok | Mystic Rhythms |
- Cygnus X-1 | Red Sector A |
- Hemispheres Prelude | Drum Solo |
The Spirit Of Radio | Resist |
Force Ten | Heart full of Soul |
Animate | 2112: |
Subdivisions | - Overture |
Earthshine | - The Temples of Syrinx |
Red Barchetta | - Grand Finale |
Roll The Bones | La Villa Strangiato |
Bravado | By-Tor & the Snow Dog |
YYZ | Xanadu |
The Trees | Working Man |
The Seeker | Summertime Blues |
One Little Victory | Crossroads |
Limelight |
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