"Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben."
(Rainer Maria Rilke)
In einer
zeitgenössischen Promo-Dokumentation zu unserem diesjährigen
Einstiegsalbum meinte Henry Rollins einmal, dass THE OBSESSED die
tatsächliche Jugendkultur Amerikas repräsentieren würden. Schau mal
einer an, das habe ich damals gar nicht mitbekommen. Sicher erreichte
seinerzeit der Grunge-Underground vor allem durch die Erfolge von
Nirvana kommerziell ungeahnte Höhen und breitere Schichten der Jugend
kamen auch mit dessen Einflüssen (Hardcore, Punk, Doom) in Berührung,
aber ob nun THE OBSESSED trotz kurzzeitigem Majordeal wirklich in
besonderem Maße prägend waren? Für Musiker und deren eigene Bands mag
das zutreffen, sodass der OBSESSED-Sound zumindest dort unbestreitbar
seine Spuren hinterließ.
Die Band, die wieder aktiv ist und dieses Jahr beim Roadburn-Festival gespielt hat, entstand schon Ende der Siebziger. Ihr wichtigstes Mitglied dürfte Scott "Wino" Weinrich sein, auch bei der Doom-Legende Saint Vitus eine markante Figur, und daneben bis heute mit einer Vielzahl anderer Projekte aktiv: Spirit Caravan, Place of Skulls oder The Hidden Hand - um nur einige Namen zu nennen. Sogar bei Paolo Catena (aka "Paul Cain"), Italiens Metal-Mysterium, findet sich sein Name wieder. Für so manchen Fan ist Wino gar der "Lemmy des Doom" und ein solcher Ehrentitel wird ja nicht einfach ohne Grund verliehen.
"No love stronger, no pain greater,
no hate deeper" - so steht's in goldfarbenen Prägelettern auf der
Rückseite der Limited Edition, ganz in völlig schwarzem CD-Case
gehalten. Auch in der regulären Ausgabe ist das Album momentan leider
vergriffen, bei Amazon aber noch zu nicht völlig überzogenen Preisen zu
bekommen (20 Euro sind aber doch mindestens zu investieren). Die
Scheibe beginnt mit dem Motto des Los Angeles Police Department, so
zumindest heißt der erste Song: "To Protect and to Serve", eine der
beiden Single-Auskopplungen aus dem Album, das neben seinem Release
durch das deutsche Doom-Label Hellhound Records auch bei der US-Firma
Columbia erschien. Man hätte allerdings die Uhr danach stellen können,
dass letztere Verbindung nicht von sehr langer Dauer sein würde,
schließlich waren THE OBSESSED trotz gewisser Erfolge und trotz ihrer
beachtlichen Reputation unter Musikerkollegen immer eine dieser Bands,
die eigentlich gar nicht zu einem erfolgreichen Massenphänomen werden
können, wenn sie sich und ihrer Musik einigermaßen treu bleiben.
"The Church Within" präsentiert die Stärke der Band und auch ihre für Doom-Verhältnisse bemerkenswerte Vielseitigkeit perfekt: Der Sound ist mächtig, aber ohne aufdringliche Metal-Kraftmeierei, die Songs kommen auf den Punkt, auch wenn sie oft langsam und schleppend sind. Zwischendurch gibt's kleinere Ausbrüche, fast in Richtung Hardcore abdriftend wie in "A World apart", wenn das Gaspedal für einen Moment einmal so richtig durchgetreten wird und Wino inbrünstig "Fuck this world!" ins Mikro bellt. Irgendwie ist es dem Trio mit diesem Meisterstück geglückt, Fans verschiedenster Lager anzusprechen: Hardcore-Hörer z.B., die mit Klischee-Metal wenig anfangen können, ebenso wie Metal-Fans, die nicht durch allzu ausgedehnte, psychedelische Fiedel-und-Dröhn-Orgien verprellt werden. Dafür sind Wino und seine beiden Mitstreiter auch zu sehr Rock´n´Roller: Dem Nachdenklichen und der Melancholie steht immer auch eine ruppige Seite gegenüber, bereit zum Gegensteuern, damit der Hörer nicht von einem Meer aus Trübsal in Moll verschlungen wird.
Das Eindrucksvollste ist die Seele des Albums: Die Musiker mögen keine genialen Virtuosen gewesen sein oder es zumindest nicht zur Schau gestellt haben, ebenso hat auch Wino als Sänger seine Grenzen (ein Heldentenor wird aus ihm wohl nicht mehr werden). Aber all das ist vollkommen egal angesichts der Intensität der Musik, die in Songs wie "Touch of Everything" (bestes Stück der CD) ihren Ausdruck findet. Es ist sicher nicht zu hoch gegriffen, in diesem Longplayer einen Meilenstein des Doom Metal zu sehen - ewig schade drum, dass er bis dato nicht mehr neu aufgelegt wurde (wenn man von einer auf wenige hundert Exemplare limitierten Vinyl-Ausgabe beim Roadburn-Festival absieht). Eine CD-Wiederveröffentlichung, vielleicht mit einem Live-Mitschnitt aus jener Zeit als Bonus, sollte doch auch im Jahr 2012 noch genügend Käufer finden.
- Stefan - 10/2012
Nach meiner letztjährigen vornehmen
Zurückhaltung im Rahmen dieser Reihe möchte ich heuer nun doch auch
mein Scherflein dazu beitragen und habe mir hierfür das dritte,
selbstbetitelte Album der norwegischen Band AUDREY HORNE ausgesucht.
Zunächst einmal fällt der doch etwas ungewöhnliche Name der Combo
auf… irgendetwas macht da im Hinterkopf "Klick"! Und richtig: Bei
"Audrey Horne" handelt es sich um einen Charakter aus der US-
Mysteryserie "Twin Peaks" von David Lynch, und zwar um die kongenial
von Sherilyn Fenn verkörperte geheimnisvolle Schönheit ebendieses
Namens.
OK, etwas eigenwillig zwar, aber die Band entschied sich ganz bewußt
für diese Namensgebung, um sich ein geheimnisvolles Image zuzulegen,
und genau das dürften AUDREY HORNE damit wohl - vor allem bei den
Kennern des Werkes des Kult-Regisseurs - auch erreicht haben!
Musikalisch sind die Norweger recht schwierig einzuordnen; ich würde einmal sagen, sie praktizieren grundsätzlich einen Spagat zwischen Alternative und Classic Rock sowie zwischen Progressive Metal à la Threshold und Neumetallischem der Sorte Furyon und Konsorten: Bisweilen brachiale Gitarrenriffs treffen da schon einmal auf sphärische Synthesizer- oder gar Mellotron-Sounds, so und so oft röhrt auch die gute alte Hammond rauh auf; wunderschöne Melodiebögen und Soli kollidieren mit schroffen, sperrigen Passagen, und der oftmals verfremdete Gesang, der über weite Strecken gepreßt bis gequält klingt, verleiht den meisten der Songs die entsprechende Portion Melancholie, die irgendwie perfekt zu den Texten, die sich im wesentlichen um das Verlassen, Verlassensein oder Verlassenwerden drehen, paßt.
Das Album vereint treibende Rocker wie "Charon" oder "Blaze of Ashes" mit eher schleppenden Songs wie "Circus", stellt luftig-federnde Stücke wie "Down like Suicide" neben teils düstere Epen wie "Pitch Black Mourning" und "Bridges & Anchors" oder Dezentes wie das abschließende "Godspeed"… Eine äußerst interessante wie auch stimmige Mischung, atmosphärisch ungeheuer dicht und beeindruckend umgesetzt!
Besonders intensiv tönen allerdings die beiden Power-Balladen "Sail
away" und "Firehose", in denen AUDREY HORNE so ziemlich alle Register
ziehen; besonders bei erstgenannter Nummer erinnern sie mich
phasenweise doch gewaltig an meine Alltime-Faves Demon in ihren
episch-erhabenen Momenten, was ihnen bei mir natürlich noch einige
Extra-Bonuspunkte einbringt.
Und mir in diesem Falle eine meterdicke Gänsehaut!
Zu erwähnen wäre noch, daß die Erstauflage dieses Albums mit sechs unplugged eingespielten, nicht auf der regulären CD erhaltenen, Bonustracks erschien, die die Band noch einmal von einer vollkommen anderen, ebenfalls recht interessanten Seite präsentieren…
Fazit: Sollte man durchaus einmal gehört haben, paßt vortrefflich in die eher trübe Jahreszeit!
- Klaus - 10/2012
"Vorzüglicher Instrumental-Rock von
der derzeit besten Band aus deutschen Landen" schrieb ein gewisser
Heiko K. in einem Online-Fanzine namens "ZWNN" (unbedingt mal
vorbeischauen, lohnt sich!). Wobei sich auf dem 2009er Album
traditionsgemäß (die machen das bei jeder Scheibe, sagt Wikipedia) auch
ein Titel mit Gesang eingeschlichen hat - aber das wollen wir mal nicht
so eng sehen. Im Gegensatz zu anderen Bands aus dem weiten Feld des
Instrumental- bzw. Post-Rock ist bei LONG DISTANCE CALLING eine gewisse
Metal-Schlagseite nicht zu leugnen, sie erklärt sich durch die Bands,
bei denen die Mitglieder zuvor gespielt haben oder mit denen sie auf
Tour unterwegs waren.
Immer blitzen verschiedene Reminiszenzen daran auf, kraftvolle Stoner-Riffs z.B. oder eine Gitarrenpassage wie im Opener "Apparitions" (kurz vor 9:30), die auch von einer Melodic-Death-Metal-Combo stammen könnte. Vielleicht ist es diese bodenständige Komponente, die bei LDC die Gefahr umgeht, sich bei langen Stücken (das kürzeste läuft 7:17 Minuten) in Orientierungslosigkeit zu verlieren, sondern immer nachvollziehbar strukturiert von Stimmung zu Stimmung wechselt, dem Langsam-Bedächtigen also einen handfest zupackenden Kontrast gegenüberstellt, durch den die ganze Sache erst so richtig interessant wird.
Ein sehr gutes Beispiel, wie
spannend das funktionieren kann, ist "359°" (drittes Stück auf dem
Album). Ohne Hektik wird planvoll vorbereitet, alles geht organisch
ineinander über. Das ist in diesem Genre ja nicht immer der Fall, so
mancher verirrt sich durchaus schon einmal im Labyrinth der Monotonie.
Um darin bestehen zu können, muss man entweder z.B. durch völlige
Radikalität überzeugen oder kompositorisch etwas auf dem Kasten haben -
denn der Reiz der Wiederholung kann schnell verfliegen, wenn sich das
fünfte Stück genauso langatmig anhört wie das zweite, noch kein Ende in
Sicht ist und Struktur Mangelware bleibt.
Was LDC auf diesem Album präsentieren, eignet sich auch für Metal-Fans, die in den Instrumental-Bereich vorstoßen wollen und, durch ihre musikalische Sozialisation geprägt, das Rhythmische dem rein Fließenden bevorzugen. Die Band war entsprechend auch schon öfter mit Metalbands auf Tour, die Schnittmengen sind also offensichtlich vorhanden. Den obligatorischen Track mit Gesang hätte es dabei gar nicht gebraucht, er klingt im Vergleich zu den anderen Stücken am gewöhnlichsten (das klingt jetzt vielleicht etwas zu abwertend, mag sein). Der Rausschmeißer "Sundown Highway" bringt das Album noch einmal auf den Punkt, lässt es auch mal ziemlich flott angehen, bevor am Ende eine sanfte akustische Melodie langsam verklingt ...
Ein schöner Live-Mitschnitt, der die Stärken und die Bandbreite von LDC gut wiedergibt. Amüsant ist die Frage in den Kommentaren: "Why is the crowd just standing there?" Ganz einfach, Herr/Frau Unbekannt: Weil man bei bestimmten Konzerten vielleicht schlicht und ergreifend zuhören möchte anstatt z.B. das fettig-verschwitzte Haupthaar, falls (noch) vorhanden, abwechselnd Richtung Vorder- oder Hintermann zu schwingen. Manch einer will halt neben dem Klangereignis auch gerne sehenderweise mitbekommen, was sich auf der Bühne so tut. Und mal ehrlich: Zwei Stunden Dauer-Propellerheadbanging à la Tom Araya bei Reinhard Mey in der ersten Reihe mag sicher originell sein, sieht aber letztlich doch irgendwie unpassend aus, oder nicht?
"Avoid
the Light" aktuell für schlappe 8,99 Euro gibt es HIER
Mehr
Infos zur Band: http://www.longdistancecalling.de
- Stefan - 10/2012
Bleiben wir beim instrumentalen
Post-Rock: Stellt man dieses Album der RED SPAROWES der letzte Woche
hier präsentierten CD ihrer Kollegen von LONG DISTANCE CALLING
gegenüber, hat sich in erster Linie die Metal-Komponente verflüchtigt.
Die SPAROWES sind deshalb aber nicht der dünne Fencheltee unter den
bisher hier vorgestellten Scheiben, sie wissen schon auch mal eine Spur
härter aufzutreten. Sie legen ihre Stücke nur etwas raumgreifender an,
hier ist vieles im Fluss begriffen. Das Eigenwillige an ihrem Album ist
die Kombination von Passagen, die etwas eher "Kratzbürstiges" haben,
mit schönen und sanften Melodien. Immer wieder mündet das dann entweder
in aggressive Ausbrüche oder in einen großen, fast epischen Sound.
Track 4 "A Message of Avarice Rained Down" ist ein tolles Beispiel dafür: Das beste und zugänglichste Stück auf der CD: Ein langer Aufbau, alles in sich auch physisch (und nicht nur rein mechanisch nach einzelnen Bauteilen) plausibel, bis zum ausgedehnten, dahinschwebenden Schlussteil. Aber die RED SPAROWES können dabei nicht nur "schön" - es geht immer wieder auch etwas wilder und ungezügelter zur Sache. Dennoch hat man zu keiner Zeit das Gefühl, dass hier irgendwelche Stoner/Metal-Klischees plötzlich vor einem stehen könnten und der starke Max markiert werden muss. Die RED SPAROWES funktionieren wirklich aus ihrer Musik heraus, wobei eigentlich nur noch ein Schritt fehlt, nämlich die Aufteilung in einzelne Stücke aufzugeben und aus dem Album gleich einen einzigen großen Track zu machen. Der auf die einzelnen Songtitel verteilte Text über Chinas "großen Sprung nach vorn" legt diese Verbindung ja ohnehin nahe:
"(1) The Great Leap Forward Poured Down Upon Us One Day Like a Mighty Storm, Suddenly and Furiously Blinding Our Senses. (2) We Stood Transfixed in Blank Devotion as Our Leader Spoke to Us, Looking Down on Our Mute Faces with a Great, Raging, and Unseeing Eye. (3) Like the Howling Glory of the Darkest Winds, This Voice Was Thunderous and the Words Holy, Tangling Their Way Around Our Hearts and Clutching Our Innocent Awe. (4) A Message of Avarice Rained Down Upon Us and Carried Us Away into False Dreams of Endless Riches. (5) Annihilate the Sparrow, That Stealer of Seed, and Our Harvests Will Abound; We Will Watch Our Wealth Flood In. (6) And by Our Own Hand Did Every Last Bird Lie Silent in Their Puddles, the Air Barren of Song as the Clouds Drifted Away. For Killing Their Greatest Enemy, the Locusts Noisily Thanked Us and Turned Their Jaws Toward Our Crops, Swallowing Our Greed Whole. (7) Millions Starved and Became Skinnier and Skinnier, While Our Leaders Became Fatter and Fatter. (8) Finally, as That Blazing Sun Shone Down Upon Us, Did We Know That True Enemy Was the Voice of Blind Idolatry; and Only Then Did We Begin to Think for Ourselves."
Instrumental-Fans haben die Band natürlich schon längst auf ihrem Radar entdeckt, ein echter Geheimtip ist die aus dem Umfeld von Neurosis und Isis entstammende Formation nicht mehr. Wer Lust auf mehr bekommen hat, kann auf "bandcamp.com" (Link siehe unten) in das Album und in andere Veröffentlichungen der Band (die "Aphorisms"-EP z.B. tönt auch sehr interessant) ausführlich reinhören. Natürlich spricht der Sound der RED SPAROWES in erster Linie Freunde der langen Distanz an, für diese Art von Musik muss man sich doch etwas Zeit nehmen. Vom Formatradio konditionierte Hörer werden sich umstellen müssen und (im Idealfall) zum ursprünglichen Musikhören zurückfinden können: keiner redet dazwischen und niemand verkündet alle drei Minuten, welchen Sender man hört - stattdessen einfach nur: Musik. So soll es sein.
Info-Links:
http://redsparowes.bandcamp.com/album/every-red-heart-shines-toward-the-red-sun
http://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer_Sprung_nach_vorn
- Stefan - 10/2012
Liebes Wetter: So geht das nicht. Du nimmst dir Freiheiten heraus, gegen die wir nicht viel unternehmen können, selbst wenn wir es wollten. Aber geschenkt - ist ja schließlich ein freies Land. Nur eine Sache musst du dir gefallen lassen: Du bist unkooperativ. Da haben wir uns zum zweiten Mal nach 2011 zu unserer Herbstmusik-Reihe versammelt und was passiert, Ende Oktober? Es schneit. Im Oktober? Gut, offiziell ist die Sommerzeit für dieses Jahr tatsächlich seit dem Wochenende Geschichte, doch thematisch ist das für uns trotzdem unpassend. Aber egal, dann fahren wir eben härteres Geschütz auf. Unter dem Motto "No Sleep 'til Wintereinbruch" lärmt diesmal ein Doppelpack mit massiv intonierter Düsternis. Gitarrenwände gegen Nachtfrost ...
"I would rather be a
superb meteor, every atom of me in magnificent glow, than a sleepy and
permanet planet. I shall not waste my days trying to prolong them. I
shall use my time." Trotz dieses Jack-London-Zitats im Booklet ihres
2007er Albums haben NEUROSIS seit ihrer Bandgründung mittlerweile schon
ziemlich viel Beständigkeit gezeigt, sind also kein nur kurz
aufglühender und schnell wieder verlöschender Funke in der
Musiklandschaft. Auch wenn ihr 1993er Album "Enemy of the Sun" den
Untertitel unserer diesjährigen Herbst-Rubrik inspiriert hat, gehen wir
nicht ganz so weit zurück, sondern verbleiben in der jüngeren
Vergangenheit.
"Given to the Rising" arbeitet zwar mit verschiedenen Songs, aber im Prinzip ist die 71 Minuten lange Scheibe ein Werk, das am besten am Stück funktioniert, da einige Tracks für sich genommen ohne den Kontext vielleicht sogar ein wenig identitätslos wirken. NEUROSIS wird nachgesagt, mit dem Stilmittel des Laut-leise-Kontrasts in ihrem Gesamtschaffen recht häufig zu arbeiten, wobei da nicht selten auch der Vorwurf der Wiederholung und des Stillstands mitschwingt. Gebirgsformationen aus Gitarren treffen auf vor sich wabernde, mitunter dissonante Passagen, die teils Erholungspausen anbieten, teils eine bedrohliche Stimmung ausstrahlen, bis dann erneut die Gitarren-Lava ausbricht, unterlegt mit röhrend-aggressivem Gesang.
Die Gestaltung des Covers ist laut Wikipedia speziell durch den Heldenplatz in Budapest inspiriert. Martin brachte während einer unserer ZWNN-Konferenzen in Zusammenhang mit NEUROSIS Bezüge zur "Nazikunst" ins Spiel, also das martialisch-mythisch-totalitäre Element gewissermaßen. (NEUROSIS hatten auf einem ihrer früherern Alben mal Graphiken verwendet, die sie in einem Interview selbst als "völkisch"-inspiriert bezeichneten - Martin) Auch Anspielungen auf die Arbeit von LAIBACH dürften nicht zufällig sein, siehe dazu neben dem Frontmotiv das Tiergeweih unter dem CD-Tray: Eine Reminiszenz an Laibachs großartigen "Life is Life"-Clip oder das Cover ihres "Nova Akropola"-Albums? Ob NEUROSIS nun die großartige musikalische Apokalypse sind, die vertonte Endzeitstimmung, oder einfach "nur" eine sehr interessante Band - wer weiß? "Given to the Rising" ist auf jeden Fall eine gelungene und sehr gut produzierte Scheibe, kann man weiterempfehlen.
CROWBAR sind eine der
relativ wenigen Metal-Bands, die ich tatsächlich mal live gesehen habe,
als Support von Napalm Death seinerzeit. Mit viel Energie walzte sich
die schwergewichtige Truppe durch ihr Programm, eine Mischung aus
Hardcore und Doom Metal. Ich muss gestehen, dass ich die Band seither
mehr oder weniger aus den Augen verloren hatte, aber mit dem im Februar
2011 erschienenen Album "Sever The Wicked Hand" hat sich das geändert -
und womit? Mit Recht natürlich, denn das Ding ist ein echter Treffer!
Der Albumtitel steht laut Frontmann Kirk Windstein dafür, sich von schlechten Einflüssen loszusagen, auch wenn das oftmals schmerzhaft sein kann, und eine positiv geprägte Lebensperspektive zu verfolgen. Der Mann, der auch viel mit der Band DOWN unterwegs ist, spricht aus Erfahrung: Permanenter Konsum von Alkohol und Drogen hatte ihm ordentlich zugesetzt, bis er endlich an dem wegweisenden Punkt angelangt war, das im Kopf bereits erkannte Problem mit Namen Sucht auch wirklich loswerden zu wollen.
Man könnte nun vermuten, dass die Scheibe nur so strotzt vor Weltschmerz, Leid und Frustration, aber selbst wenn das natürlich zum Thema geworden ist, regiert hier nicht das Lamentieren, sondern das Licht am Ende des Tunnels: "I'm not alone - in times of sorrow" singt Windstein in "Let Me Mourn" und das ist gut so. Musikalisch bewegen sich CROWBAR zwischen melancholischem Doom Metal und purer Dampfwalze, die aber nicht in stumpfes Gebolze ausartet. Die Jungs sehen zwar so aus, als sollte man ihnen besser keine Delle ins Auto fahren, aber hinter der ruppigen Fassade, hinter dem massiven Sound und dem räudig in die Welt hinausgebellten Gesang steckt noch etwas anderes, etwas Verletzliches - was CROWBAR nicht zuletzt durch die Texte auch zulassen und sich nicht hinter oberflächlich hartem "Tough Guy"-Posing verstecken.
Das heißt freilich nicht, dass hier Wandersmann und Minnesänger dem geneigten Hörer eine blumige Melodei entgegenflöten, hier hat schon eindeutig der Schwermetall das Sagen. Sicher könnte man, wenn man denn ein Haar in der Suppe finden wollte, ins Feld führen, dass CROWBAR durchaus noch etwas mehr Abwechslung vertragen würden, aber dafür haben sie mit Intensität und Gefühl etwas zu bieten, was dieses Manko (falls man es als solches empfindet) vergessen macht. Nach Jahren, in denen nicht viel von der Band zu hören war, ist dieses kleine Comeback wirklich überzeugend ausgefallen. Die Verkäufe und die gut besuchten Gigs beweisen, dass die Fans das ähnlich sehen und die Band noch immer relevant ist - vielleicht mehr, als sie es bis dato überhaupt war. Der schön massiv in Szene gesetzte Sound (sehr kraftvoll, aber trotzdem auch filigran) ist das Sahnehäubchen auf einem Album, das nicht nur mich absolut positiv überrascht hat.
Hier kann das Geschäftliche erledigt werden
Hier
geht's zum Video von "Cemetery Angels"
- Stefan - 10/2012
Der kurzzeitige Wintereinbruch hat sich wieder verflüchtigt, doch so langsam werden die Bäume immer kahler. Wenden wir uns also nach brachialeren Tönen diesmal etwas ganz anderem zu... Low-fi-Kopfhörermusik...
Bei der Oscar-Verleihung 1998 für
den "Besten Song"steht ein schmaler Mann im weißen Anzug und
strubbeliger Nicht-Frisur auf der Bühne mit der bekannten Staffage aus
Hollywood-Stars. Er ist für seinen Song "Miss Misery" aus dem Film
"Good Will Hunting" von Gus van Sant, zu dem er noch ein paar weitere
Lieder beisteuerte, nominiert. Den Ocar bekommt "My Heart Will Go On"
aus dem Titanic-Soundtrack, was genauso irrelevant ist, wie die
Veranstaltung als Ganzes. Der schmale Mann fühlt sich hier nicht wohl;
später wird er das Ereignis mit den Worten kommentieren: "I wouldn't
want to live in that world, but it was fun to walk around on the moon
for a day".
Er heißt Elliott Smith und hat zu diesem Zeitpunkt bereits drei
Solo-Alben veröffentlicht, von denen jenes mit dem Cover, das zwei
Menschen zeigt, die entweder fliegen oder aber vom Dach eines Hauses
springen, das zweite ist. Gus van Sant hatte ihn darauf angesprochen,
ob er vier seiner Songs für den Film verwenden dürfe, "Miss Misery" hat
er eigens dafür geschrieben, und jeder der "Good Will Hunting" kennt,
verbindet damit die melancholischen, mit Akustik-Gitarre vorgetragenen
Lieder von Elliott Smith.
Zu seinen frühen Einflüssen zählte Elliott Smith die Beatles und Bob Dylan aber auch Kiss und The Clash. Zwischen 1993 und 1996 veröffentlichte er mit seiner Band "Heatmiser" drei Alternative-Rock-Alben. Die ersten Solo-Alben, instrumental auf das Notwendigste reduziert, sind eher Dylan zuzuordnen, das Spätwerk spielt mit seinen Harmonien auf die Beatles an. Nick Drake mit dem er - bis hin zur finalen Konsequenz - verglichen wurde, war Elliott Smith ursprünglich gar nicht bekannt.
Die Melodien und die
sanfte Stimme Elliott Smiths haben spätstens beim zweiten Durchlauf
ihren Platz im Großhirn gefunden, doch irritieren leise Ausbrüche
unterdrückten Zorns in den Texten eines Menschen, der eigentlich ungern
von sich selbst spricht, aber gezwungen ist, sich seiner Umwelt mit
Nachrichten aus seinem Innersten auf kleinen, vollgekritzelten Zetteln
mitzuteilen. Als Hilferuf? Oder im sich selbst seine Existenz zu
beweisen.
Lange Jahre seines Lebens hatte Elliott Smith mit Depressionen und Alkoholabhängigkeit, in seinen letzten Jahren auch mit harten Drogen, wie Heroin, zu kämpfen. Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken und Entzüge folgten. Im posthum erschienen Album "From A Basement On The Hill" verdichtet er dies in "A Passing Feeling" in den Textzeilen "Took a long time to stand/ Took an hour to fall".
Die Drogenbezüge in den Songs auf "Elliott Smith" sind machmal
offensichtlich, manchmal sind die Drogen-Methaphern in Wortspielen
versteckt, machmal werden sie vielleicht retrospektiv gedeutet. Durch
das gesamte Werk von Elliott Smith zieht sich auch seine schwierige
Kindheit und das Verhältnis zu seinem Stiefvater. Persönlicher, als mit
dem eigenen Namen, kann man ein Album nicht benennen, und bei diesem
Album trifft das tatsächlich auch mal zu. Doch darf man hier keinen
weinerlichen oder aufdringlichen Seelenstriptease wittern. Trotz der
buchstäblich intensiven Nähe - man hat den akustischen Eindruck mit dem
Künstler in einem Raum zu sitzen - ziehen die Songs den Hörer nicht
runter. Dazu wohnt den Songs trotz aller Melancholie eine
frühherbstliche Unbeschwertheit inne. In einem Interview verriet
Elliott Smith, daß sein Gitarrenspiel teilweise von seiner Vorliebe für
Flamenco-Platten und der gleichzeitigen Unfähigkeit, die korrekten
Flamenco-Zupfmuster zu spielen, herrühre.
Ein Versuch, sich das Leben zu nehmen, indem er von einer Klippe
springt, schlägt 1998 fehl.
Am 21. Oktober 2003 stirbt Elliott Smith an den Folgen zweier
Messerstiche in die Brust, die er sich nach einem Streit mit seiner
Freundin selbst beigebracht haben soll. Die offizielle Todesursache
lautet Suizid. Als er starb, war Elliott Smith clean.
Irgendwie hätte das alles auch in einen Gus-van-Sant-Film gepasst...
Sweet Adeline
- die offizielle Elliott-Smith-Seite
Meist für
ein paar Euros ist das Album gebraucht bei amazon zu haben
- Martin - 11/2012
Eigentlich war ja schon
im letzten Jahr in unserer ersten Herbstmusik-Reihe etwas zu SIOUXSIE
AND THE BANSHEES geplant, aber zu mehr als einem kleinen Auftritt im
Startbanner oben auf der Seite reichte es dann doch nicht. Nicht
zuletzt, weil die Entscheidung, welches Album wohl am geeignetsten
wäre, erst noch getroffen werden musste. Das Debüt "The Scream" ist
noch relativ punklastig, vom Nachfolger "Join Hands" blieb trotz
Probehören nicht viel hängen. "Kaleidoscope" von 1980 hat gute Songs,
aber nicht über die volle Distanz. Also konnte es eigentlich nur noch
"Juju" aus dem Jahr 1981 werden.
Tante Wikipedia meint, die Scheibe sei ein "unbestreitbarer Archetyp" des Gothic Rock. Wobei das mit Genre-Definitionen wieder so eine Sache ist: Irgendwo zwischen The Cure in relativ früher Phase, Bauhaus, Christian Death bis hin zu The (Southern Death) Cult oder Sisters of Mercy (die waren manchem vielleicht schon wieder zu käsig). Keinesfalls vergessen werden dürfen natürlich auch Joy Division. Die musikwissenschaftlich Veranlagten würden an dieser Stelle noch auf den (nicht immer klar feststellbaren) Übergang vom Post-Punk zum Gothic Rock verweisen, aber mit trockener Theorie halten wir uns hier mal lieber nicht auf.
"Juju" fällt in die Zeit, als Gitarrist John McGeoch bei der Band spielte (er verstarb 2004). Im Rückblick gilt er vielen als der beste Gitarrist, den die Banshees jemals hatten, was sich besonders live auszahlte. Das Album ist stilistisch abwechslungsreich, wechselt die Stimmungen von treibendem Rock über die düstere, langsame Hymne bis zu eher hektischen Tracks, bei denen es etwas wilder zur Sache geht. Der Opener "Spellbound" ist ziemlich drum-lastig, wenn auch noch nicht so derart dominant wie z.B. bei "Hanging Garden" von The Cure. Neben dem hämmernden Rhythmus fällt hier schon das krönende Element auf, das die Banshees von anderen Bands doch sehr unterschied: Die markante, mit einem sehr hohen Wiedererkennungswert gesegnete Stimme einer jungen Dame namens Susan Janet Ballion, besser bekannt als Siouxsie Sioux.
Sie gibt auch Songs,
die musikalisch schon mal etwas gewöhnungsbedürftiger klingen können,
einen eigenen Charakter. Besonders wirkungsvoll wird es dann, wenn
Drums und Bass (wie bei den frühen Cure ein wichtiges Instrument im
Soundgefüge) für ein druckvolles Fundament sorgen wie in "Arabian
Knights", auf dem sich dann Siouxsies einzigartige Stimme entsprechend
entfalten kann. Ein mit dem Uptempo-Gaspedal spielender Klassiker ist
"Halloween", bei dem McGeochs vor sich hin sägende Gitarre etwas leicht
Manisches an sich hat. Reduziert in Sachen Geschwindigkeit ist der
danach folgende Doppelpack, der das Herzstück der Scheibe darstellt und
bei dem Siouxsie sich zur Hohepriesterin des Gothic Rock aufschwingt:
"Monitor" mit einem ganz außergewöhnlichen, sich gegenseitig zu
Höchstleistungen anstachelnden Wechselspiel zwischen Gitarren und
Gesang, sowie das von Serienkiller Peter Sutcliffe inspirierte, düstere
"Night Shift". Unfassbar grandios!
I'm out of my mind with you … In heaven and hell with you...
Was sich an diese elfeinhalb Minuten anschließt, fällt im direkten
Vergleich etwas ab, was natürlich an der großen Konkurrenz der beiden
vorangegangenen Songs liegt - dagegen zu bestehen ist nicht einfach.
Sehr eigenwillig ist der finale Track "Voodoo Dolly", der sich
zusehends in dissonante Raserei hineinsteigert. Obwohl, letzter Song
ist nicht ganz richtig, denn in der remasterten Neuauflage hat die CD
drei Bonusstücke erhalten: "Spellbound" und "Arabian Knights" in
anderen Mix-Versionen sowie "Fireworks", das zwischen "Juju" und dem
Nachfolger "A Kiss in the Dreamhouse" als Single veröffentlicht worden
war. Kein Song der Extraklasse, passt hier aber als Verbindung zur
nächsten Studio-LP musikalisch gut in die Landschaft. Für "Juju" gilt
natürlich, trotz leichter Abzüge in der B-Note, andererseits aber auch
mit unbestritten großen Klassikern, eine dringende Empfehlung, falls
ein näheres Kennenlernen der Band anstehen sollte. Und der 1981er
Rockpalast-Gig darf auch mal endlich auf DVD erscheinen, aber bitte
noch in diesem Jahrzehnt, wenn es sich einrichten lässt.
Myspace-Seite
mit Songs zum Reinhören
Und hier geht's zur Kasse ...
- Stefan - 11/2012
Ich kann mich noch gut daran
erinnern, wie seinerzeit das GODFLESH-Debüt "Streetcleaner" im Metal
Hammer und anderswo verrissen wurde. Im Rock Hard zitierte Herausgeber
Stratmann seinen Chefredakteur Kühnemund bei einer Album-Besprechung
mit den Worten: "Godflesh, das ist so, als wenn man sich in der
nächstbesten Dorfdisco die Bierpulle vor den Schädel haut." Da spricht
der geballte Sachverstand. Aber wir wollen nicht zu streng sein.
GODFLESH waren für Fast-ausschließlich-Metal-Hörer damals relativ
neuartig, aber das erklärt trotzdem nicht so ganz, warum manche in der
Metal-Presse so lang brauchten, mit der Musik klarzukommen. Vielleicht
war sie Ende der Achtziger für manche einfach noch zu früh am Start.
GODFLESH-Mastermind Justin Broadrick war und ist ein sehr aktiver Mensch. Die Zahl seiner musikalischen Projekte und entsprechend auch die der jeweiligen Veröffentlichungen ist ausgesprochen hoch. Gegen Ende der (mittlerweile wieder aktiven) GODFLESH experimentierte er mit Hip-Hop-Rhythmen, was in Verbindung mit seinem typischen Gitarrensound interessanter war als bei herkömmlichem Nu Metal. JESU ist eine weitere Musik-Insel im Broadrick-Kosmos, auch hier sind seit 2004 reichlich Tonträger erschienen.
Das selbstbetitelte erste Album schloss relativ eng an verschiedene Klangmotive an, die einem zuvor schon bei GODFLESH begegnet waren: wuchtige Gitarren, der eigenwillige Gesang, charakteristischer Bass-Sound, die Neigung zu langen Songs - hier schon sehr betont. Der kürzeste Track der CD ist immerhin sieben Minuten lang, ansonsten wird die 9-Minuten-Marke meist überschritten, bisweilen sogar zweistellig. Aber trotzdem ist da noch etwas Anderes: Eine gewisse Sanftheit, im Gesang ebenso wie in den Gitarrenmelodien, die sich durch die sehr langgezogenen Riffs bewegen. Wo GODFLESH nicht selten noch sehr "schmissig" waren, fand JESU nun die Muße, sich bei Geschwindigkeit und massiver Härte zurückzunehmen.
Das hat natürlich zur
Folge, dass Geduld und Ausdauer gefragt sind. JESU sprechen Hörer an,
die gerne mal in Musik versinken wollen (und können!). Je nach
Stimmungslage des Konsumenten können JESU dadurch auch etwas weniger
ansprechend sein, was dem emotionalen Charakter der Musik entspricht.
Sich darauf einzulassen, ist Voraussetzung. Wobei Broadrick auch mit
Erwartungshaltungen spielt: "Friends are evil" z.B. läutet mit
knarzendem Bass und Gottfleisch-Riff eine Reminiszenz an alten Zeiten
ein - denkt man. Aber nicht so ganz: Der sphärisch-sanfte Gesang und
die sich wie ein roter Faden etablierende Hintergrund-Melodie stecken
das neue Terrain ab, auf dem sich JESU musikalisch nun bewegen sollten.
Stilistisch klingt das deutlich melancholischer, getragener, sehr viel nachdenklicher. "We all faulter" ist einer dieser Momente, in denen die musikalische Reifung deutlich wirkt - "Sun Day" (schöner Anfang) ein anderer. Broadrick nimmt sich dabei alle Zeit der Welt, sodass der Begriff "langatmig" tatsächlich zutrifft, und entwirft eine Sound-Landschaft, als wären Popol Vuh und Doom Metal einander plötzlich ganz nah. Das vorletzte Stück "Man/Woman" kehrt am deutlichsten noch einmal (vorübergehend) zu alten GODFLESH-Zeiten zurück, während das Eröffnungsriff des Rausschmeißers "Guardian Angel" mich irgendwie immer an CARCASS erinnert. Aber das ist wahrscheinlich irgendetwas Britisches, das einfach in der Szene-DNA aus dieser Zeit (Justin Broadrick war auch mal in einem frühen Line-Up von NAPALM DEATH aktiv) verankert ist.
Ein großer JESU-Song ist auch "Silver", im Jahr 2006 als EP
erschienen. Mit idealem Cover für eine Herbst-Rubrik (Baum im Nebel)
und einem Titeltrack, der einfach nur schön ist. Der LP-Erstling klingt
stellenweise noch ein wenig härter, was aber im Gesamtkontext der
melancholischen und beruhigenden Musik nicht überbewertet werden muss.
Ob man alles braucht, was von JESU oder unter Mitwirkung von Justin
Broadrick je entstanden ist? Keine Ahnung, denn die Versuchung, auf
diesem Gebiet als Sammler oder gar Komplettist aktiv zu werden, hat
sich meiner bisher noch nicht bemächtigt. Der Griff zu ausgewählten,
aber dafür wenigstens intensiv gehörten und nicht nur aus Gründen der
Vollständigkeit gekauften Alben erscheint mir gewinnbringender.
Offizielle
JESU-Seite im Netz
Das JESU-Debüt bei Amazon
- Stefan - 11/2012
Wie wird man auf diese Band
aufmerksam? Beim Stöbern im Second-Hand-Laden war es natürlich der
Name, der unweigerlich an Klaus Kinski denken lässt. Dann das Label Sub
Pop, das ja doch einen gewissen Status besitzt (muss man an dieser
Stelle - glaube ich - nicht nacherzählen). Erster Höreindruck:
Irgendwas zwischen Stoner, rumpelndem Post Rock und einer Tendenz zu
psychedelisch ausgedehntem Seventies-Sound. Es tönte auf jeden Fall
nicht schlecht, hieß "Down below it's Chaos" und war das 2007
erschienene, bislang offensichtlich letzte KINSKI-Studioalbum.
Wikipedia und Band-Homepage geben zumindest nicht mehr her, wobei auf
letzterer allerdings eine neue Scheibe für das kommende Jahr
angekündigt ist.
Da ich mich mal wieder nicht so ganz entscheiden kann, muss es an dieser Stelle erneut ein Doppelpack richten. "Airs above your Station", das erste Album auf Sub Pop nach einer Single und einer EP, beginnt mit langsam in den Gehörgang wabernden Klängen - melodisch, aber auch an Drone-Musik erinnernd. Langsam gesellt sich nach drei Minuten auch eine Gitarre hinzu. Erst kurz nach der Hälfte der zehn Minuten Laufzeit schlägt das Ganze um und wuchtige Riffs fließen dahin wie Lava. Mit Bass-Gegrummel und Drums klingt der Opener aus. Man kann nicht behaupten, dass KINSKI stets darauf aus wären, sofort den Rock'n'Roller im Hörer zum Leben erwecken, auch wenn er in ihnen immer wieder durchbricht ("Rhode Island Freakout").
Hier scheint es ihnen noch mehr
daran gelegen zu haben, bei ihren Songs die längere Wegstrecke zu
bedienen. Elfeinhalb Minuten lang ist der Track "Schedule for Using
Pillows & Beanbags": Erst sanft, dann mit innigem
Gitarrengeschrammel, dann einen Gang höher schaltend - nur der
Schlussteil mit seinen Dissonanzen findet nicht so ganz ein Ende, das
restlos überzeugend geraten wäre. Sehr herbstlich ist das sphärische "I
Think I Blew It" geraten, bei dem man angenehm entspannen kann, um vor
seinem geistigen Auge nebelverhangene Landschaften vorüberziehen zu
lassen. Das Stück funktioniert auch prima mit dem folgenden Song, bei
dem die Band erst in der zweiten Hälfte die Rock-Gitarren wieder etwas
wilder einsetzt. Das Angenehme daran: Gesang oder gesprochene Parts
gibt es auf dem Album nur selten, sondern fast nur Instrumentales.
Wer es etwas zupackender bevorzugt, sollte zu anderen KINSKI-Scheiben greifen, hier haben ausgedehntere, langsam schwebende Sounds noch mehr Raum als auf anderen CDs. Einen Kritikpunkt, der nicht von der Hand zu weisen ist, stellt der teilweise doch etwas gleichförmige Songaufbau dar: Zunächst längere dahinwabernde Parts, in der zweiten Hälfte kommen dann die Rocker zu Besuch. Das ist nicht immer wahnsinnig originell, und als hätten sie sich dessen besonnen, beginnt "Alpine Static", das Album von 2005, gleich mit drei flotten, sehr rockigen Stücken wie "The Wives of Artie Shaw" und "Hiding Drugs in the Temple (Part 2)". Für Herbstmusik mag das etwas zu flott klingen, aber wer sagt eigentlich, dass man in dieser Jahreszeit nur ultra-langsame Depri-Sounds hören darf, die einen dazu animieren, kopfüber in den Gartenhäcksler zu springen?
Immerhin sind auf diesem Album auch ganz getragene Tracks wie "All
your kids have turned to static" oder "Waka Nusa" enthalten, zu denen
sich als Kontrast einige brachialere Krachpassagen gesellen. Auf dem
2007er
Nachfolger "Down below it's Chaos" konnten sich KINSKI noch
fokussierter auf einen Sound einigen, der etwas handfester ausfiel.
Wer's daneben auch noch gerne psychedelischer und nicht immer fast
durchgehend rocklastig mag, für den könnte vor allem "Airs above your
Station" ein Antesten wert sein. Auf die neue Scheibe, die dann ja wohl
2013 doch endlich erscheinen wird, bin ich schon ziemlich gespannt!
Bandpage mit
Hörproben
KINSKI bei
MySpace
- Stefan - 11/2012
Im Herbst
1986 hatten THROWING MUSES gerade ihr Debüt-Album veröffentlicht und
für ein Konzert eine ebenfalls aus Boston stammende Band als Vorgruppe
eingeladen, die sich THE PIXIES nannte. Ein Agent wurde auf die PIXIES
aufmerksam, was zum Kontakt mit dem Label 4AD führte, bei dem auch
schon die THROWING MUSES unter Vertrag standen. Gut ein Jahr später
erscheint hier die "Come On Pilgrim"-EP - der Rest ist Geschichte. Die
PIXIES werden zur Alternative-Rock-Legende und Erfindern des Grunge und
lösen sich 1993 auf.
(Ganz getrennt haben sich die Wege der PIXIES und der MUSES aber nicht,
bei BELLY traf man sich kurzzeitig wieder, oder hier
bei einem denkwürdigem Konzert im Juli diesen Jahres...)
Die THROWING MUSES wurden 1983 von Kristin Hersh und ihrer Stiefschwester Tanya Donelly gegründet, schafften es aber nie richtig, vom Alternative-Boom der späten 80er und frühen 90er zu profitieren. Möglicherweise lag dies auch daran, wie Kristin Hersh ihre psychische Befindlichkeit intonierte, vor allem bei den frühen Veröffentlichungen. Den MUSES wurde vorgeworfen, sie würden nur rumschreien und könnten gar nicht spielen oder - die andere Sicht der Dinge - die Songstrukturen wären zu exaltiert und nicht nachvollziehbar.
Ab 1994 widmete sich Kristin Hersh mit dem Album "Hips
And Makers" (ihrem vermutlich bekanntesten Solo-Album) ihrer Karriere
abseits der MUSES, wobei die MUSES aber nie komplett von der Bildfläche
verschwanden und vermutlichen zu jenen Bands gehören, die aus dem
Hintergrund wichtige Impulse für die Alternative-Szene setzten.
Kristins Solo-Alben sind der Singer-Songwriter-Ecke zuzuordnen, zum
Ausgleich betreibt sie seit ein paar Jahren 50 FOOT WAVE, den
Noise-Rock-Bruder der MUSES, dessen Rauheit mich beim ersten Hören mit
offenem Mund dastehen ließ. Jedoch sind diese Differenzen in sich
schlüssig, ich könnte mir einige der Songs auf "Learn To Sing Like A
Star" auch mit deutlich verzerrteren Gitarren vorstellen, insbesondere
den Opener "In Shock".
[Kleiner Exkurs: Einen solchen Vergleich kann man mit "Your Ghost", dem
"Hit" aus "Hips And Makers" anstellen. Hier das Original,
dort die etwas lautere Darbietung.]
"Learn to sing like a star" - diesen Rat hat Kristin
Hersh glücklicherweise nie befolgt, was nicht heißt, daß sie sich nicht
weiter entwickelt hat. Teenage angst würde man einer Frau in
den 40ern natürlich nicht mehr abnehmen, und die mädchenhafte Hysterie
mit Kieksen und Schreien hat sie schon lange abgelegt.
Die Stimme klingt manchmal sanft und doch rauchig, manchmal sehr rauh
und beinahe brechend. So beziehen die Songs ihre Spannung schon alleine
aus dem Gesang von Kristin Hersh, etwas was mir bei vielen Sängerinnen
fehlt, da sie zwar objektiv "handwerklich" gut sind, aber letztlich
auch nur ein bestimmtes Klischee bedienen. Man hört der Frau einfach
gerne zu, auch wenn ein Song mal nicht so gelungen scheint, weshalb
sich ihr mittlerweile über 25jähriges Schaffen fast komplett in meinem
CD-Regal abbildet. Meine Begeisterung drückt sich dann in solchen
Fällen in inkoheränten Texten, wie diesem, und dem verstärkten Setzen
externer links aus ;-).
Von den bis dahin erschienen Solo-Alben von Kristin Hersh erscheint mir
dieses am eingängisten, zudem ist es vergleichsweise opulent mit einer
kompletten Band und Streichern eingespielt.
Kristin Hersh versucht, aktive Künstlerin zu
sein und gleichzeitig (mittlerweile vierfache) Mutter und Ehefrau, was
erstmal wenig spannend klingt. "Ehe und Mutterschaft sind viel mehr
Rock 'n' Roll als der so genannte Rock' n' Roll-Lifestyle. Man muss nur
eine Minute über die Rolling Stones nachdenken und sich fragen, wie
cool die sind. Das ist altmodisch, dämlich, überholt und außerdem
schlicht langweilig. Ehe dagegen ist gewalttätig, leidenschaftlich,
verrückt und laut. Und erst Mutter sein: Man ist verantwortlich für
menschliches Leben, die können sich jeden Moment wehtun, die Hormone
sind am Rotieren. Das ist so aufregend, das ist viel mehr Rock 'n' Roll
als mit Menschen ins Bett zu gehen, die einem egal sind. Im Rock 'n'
Roll ging es darum, an die eigenen Grenzen zu gehen, und das tue ich
als Mutter und Ehefrau", sagt sie in einem schon etwas älterem taz-Interview.
Ohne eine gewisse Erdung ist es sicher nur wenigen Künstlern möglich,
das Musik-Geschäft lange durchzustehen, da sie gezwungen sind, als
Kunstfigur zu leben, die möglicherweise mit ihrer wahren Persönlichkeit
nichts zu hat.
Mit dem von ihr mitinitierten Projekt CASH MUSIC
hat sie sich weitgehende Unabhängigkeit von der Musikindustrie
gesichert und bietet anderen Künstlern eine Plattform.
Die einzige (!) Kundenrezension bei amazon spricht von
"Learn To Sing Like A Star" als "perfekter Wintermusik"; da lag ich mit
meiner Einschätzung, das Album an den Schluss unserer
"Herbstmusik-Reihe zu stellen, doch nicht so falsch.
Es stimmt schon, die Stimmung ist nicht frühherbstlich melancholisch
oder bedrückend wie Stürme über bereits entlaubte Bäume, man denkt an
den ersten Schnee und daran, daß der Winter zum Leben gehört. Alles ist
tot - oder es kehrt für ein paar Monate Ruhe ein, je nach persönlicher
Lebensphilosophie.
- Martin - 12/2012
Das Album bei amazon
Homepage von
Kristin Hersh