"Im Herbst steht in den Gärten
die Stille, für die wir keine Zeit haben."
(Victor Auburtin)
Bassgitarre,
Drums, Saxofon: nicht gerade die klassische Besetzung, die einem in
den Sinn kommt, wenn man an eine normale Rockband denkt. Und eine
solche waren MORPHINE auch nicht, ganz im Gegenteil. Als Sänger und
Bassist Mark Sandman 1999 während eines Konzerts in Italien einen
Herzinfarkt erlitt und noch auf dem Weg in die Klinik starb, war
damit auch der Weg für MORPHINE unwiderruflich zu Ende. Das bereits
fertig eingespielte Album "The Night" erschien erst nach Sandmans
Tod. Die Bilanz der für ein Jahrzehnt aktiven Band umfasst fünf
Studioalben, eine Livescheibe und zwei Compilations.
Doch über diesen zu früh beendeten Katalog hinaus sind MORPHINE eine dieser Bands, deren Ausstrahlung bis heute andauert, deren Qualitäten neu entdeckt oder sogar erst jetzt in ihrem vollen Umfang erkannt und geschätzt werden. Auch namhafte Musikerkollegen wie Josh Homme (QOTSA) oder Les Claypool (PRIMUS) zählen zu den Bewunderern der vorzeitig abberufenen Ausnahmeerscheinung.
Der Bandname geht zurück auf Morpheus, der in der griechischen Mythologie als einer der Traumgötter bzw. Traumdämonen galt. Diese Wechselhaftigkeit im Wesen spiegelt sich in der Musik von MORPHINE wider, denn sie ist einerseits teils ruhig und sanft, trägt aber auch etwas Dunkles und Sinistres in sich. Weit bemerkenswerter als diese Verbindung ist das Verschmelzen von Indie-Rock und Jazz in MOPRHINE zu etwas Einzigartigem, das nicht erklärbar ist mit dem simplen Aufeinandertreffen zweier Musikgenres.
Das zweite Album "Cure for Pain" führt mit dem perfekt platzierten "Buena" in den MORPHINE-Kosmos ein: Nach kurzem Saxofon-Intro rödelt sich Sandmans Zwei-Saiten-Bass durch einen unwiderstehlichen Groove, der einen sofort gefangen nimmt. Die Platte ist angenehm abwechslungsreich und ausbalanciert, Melodiöses stehen neben etwas schräg Angehauchtem. Wie bei einem guten Livekonzert werden nicht einfach nur diverse Songs nacheinander abgespult, sie bilden vielmehr eine organische Einheit. Nach dem ruhigen Titeltrack zieht mit "Mary won't you call my name" das Tempo wieder an, gefolgt von dem traumartigen "Let's take a trip together" (würde sich gut in einem verrauchten Jazzclub eines Film Noir machen oder während einer Taxifahrt durch eine fremde nächtliche Großstadt - selbstredend in Schwarz-Weiß und bei Nieselregen).
Der Nachfolger "Yes" (Album Nr. 3 von 1995) ist im direkten Vergleich stellenweise etwas flotter, allerdings auch abgedrehter. MORPHINE spielen auch auf dieser CD mit Stimmungsschwankungen, sie bleiben für den Hörer nicht einfach auszurechnen. Zu den Rock-Hits der Scheibe zählen Kracher wie "Radar" (ganz groß!), während "Whisper" sofort wieder in eine andere Richtung abbiegt. Dahinter steckt aber keine Konzeptlosigkeit, sondern eine größere Lust am Experimentieren, was bisweilen nicht sofort ins Ohr geht. Geradezu heavy wird's im vorletzten Track "Free Love" mit verzerrten Bassläufen und dissonantem Saxofon.
Was aus dem ohnehin schon ungewöhnlichen MORPHINE-Sound herausragt, ist Mark Sandmans charismatische Performance, die sich mühelos auch dann transportiert, wenn man die Band niemals zu Lebzeiten live gesehen hat. Selbst mittelprächtige Youtube-Clips alter Konzerte vermitteln einen gut nachvollziehbaren Eindruck von Sandmans Bühnenpräsenz, die einen sprunghaften Charakter mit seinen charmanten, aber auch anstrengenden Seiten erkennen lässt, für den Musik nicht einfach nur akustische Unterhaltung war.
"Cure for Pain" lautet auch der Titel einer Dokumentation, die in Spielfilmlänge dem Menschen und dem musikalischen Phänomen Mark Sandman auf den Grund geht. Mit dem Wissen um die tragische Geschichte der Familie (in der die Eltern drei ihrer Kinder zu Grabe tragen mussten) wird auch spürbar, warum Musik und Texte von Mark Sandman genau so werden mussten, wie sie auf den Alben zu hören sind. Hier findet sich alles, was das Leben im Allgemeinen für uns bereithält: schöne und belastende Momente, Phasen mitreißender Energie ebenso wie Zeiten der Dunkelheit und Trauer. Und es stimmt, was einer der Interviewten sagt: Auch wenn Sandman nach außen reserviert und süffisant-ironisch wirkte, wenig von sich preiszugeben schien, entstand beim Hören seiner Musik für zahlreiche Fans doch eine enge Verbindung zu ihm...
Let's take a trip together
Headlong into the irresistible orbit…
- Stefan - 10/2017
Wie MORPHINE haben sich auch
MADRUGADA aus Norwegen nach dem frühzeitigen Verlust eines
prägenden Bandmitglieds (hier war es Gitarrist Robert Burås)
begleitet von einer finalen Tour aufgelöst. Auch wenn das Debut
"Industrial Silence" erst Ende der Neunziger veröffentlicht wurde,
reicht die Geschichte der Band bis in die frühen Jahre dieser
Dekade zurück. Ihren eigentlichen Namen (steht im Spanischen für
die Morgendämmerung) erhielt sie 1998, bevor die erste EP erschien.
Schon mit ihrem ersten Longplayer lösten MADRUGADA ein beachtliches
Echo aus und gingen in verschiedenen europäischen Ländern auf Tour.
Was am Erstlingswerk erstaunt, ist ein vergleichsweise schon sehr erwachsen wirkender Sound, als hätte hier eine bereits über längere Zeit gereifte Band eine Platte vorgelegt. Besonders Sänger Sivert Høyem, zum Zeitpunkt des Erscheinens von "Industrial Silence" gerade einmal 23 Jahre alt, klingt abgeklärt und seiner Sache sicher. Mit mal leidender, mal kraftvoll ausladender Stimme trägt er den elegischen Klangteppich der Band, die ebenfalls einen sehr gut eingespielten Eindruck macht. Man kann sie, dem ersten Eindruck nach beurteilt, vielleicht sogar für etwas zu glatt und kalkuliert halten, aber das trifft bei näherer Betrachtung so nicht zu.
Die 64 Minuten lange Scheibe wird dominiert von langsameren, melancholischen Nummern, das einleitende "Vocal" mit seinen sechseinhalb Minuten setzt da schon recht treffend den Tonfall für weite Teile des Albums. Dennoch ertrinkt die Band nicht in trauerflorumranktem Gejammer, einige Songs mit leicht erhöhtem Tempo sorgen für ausreichend Abwechslung. Über die volle Distanz betrachtet präsentieren MADRUGADA hier einen Sound, der sich von recht unterschiedlichen Ausgangspunkten (zum Beispiel GRANT LEE BUFFALO und INTERPOL) kommend in der Mitte trifft, ohne allerdings andere Bands nur platt zu kopieren. Vielmehr sind es bestimmte Elemente, die aufgegriffen und miteinander verschmolzen werden.
Als Anspieltipps wären Songs wie "Higher", "Salt" oder "Norwegian Hammerworks Corp." zu nennen, andere Stücke sind im direkten Vergleich balladenhafter - für meinen Geschmack auch recht gut, aber besser sind dann doch die Tracks, die etwas mehr aus sich herausgehen. Zu den wirklich herausragenden Platten, die einsame Leuchttürme in der Musikhistorie darstellen, zählt "Industrial Silence" nicht, aber für einen Longplayer-Einstand war das schon ziemlich bemerkenswert, was MADRUGADA hier ablieferten.
Im Jahr 2010 kam auch eine (natürlich unvermeidbare) Deluxe Edition auf den Markt, die sehr umfangreich ausfiel und Material enthielt, das schon längere Zeit nicht mehr erhältlich oder sogar bis dahin unveröffentlicht war. Das umfasste die EPs von 1998 und 1999, einige B-Seiten und diverse ältere Demo-Stücke, wodurch die Bonusscheibe auf beachtliche 18 Songs kommt. Allerdings haben die Sammlerpreise aktuell stark angezogen, was sich aber erfahrungsgemäß mit der nächsten Neuauflage wieder normalisieren dürfte.
- Stefan - 10/2017
Preisfrage: Welche Musik spielt wohl eine
Band, die sich nach einem Black-Sabbath-Klassiker benannt hat und
früher zum Labelprogramm der Doom-Institution Hellhound Records
gehörte? Die in den späten Achtzigern gegründeten IRON MAN aus dem
US-Bundesstaat Maryland begannen sogar als Sabbath-Coverband,
schrieben dann aber eigenes Material, das sich bis heute ganz in
der Tradition des Maryland-Doom bewegt. Diese Region hat eine ganze
Reihe an Bands aus diesem Subgenre hervorgebracht wie THE OBSESSED,
INTERNAL VOID oder UNORTHODOX (und natürlich waren die alle mal bei
Hellhound unter Vertrag, logisch).
Die personelle Konstante schlechthin bei IRON MAN ist Albert Morris III, von Anfang an als Riffmeister der Band dabei. Tief in den Doom-Hardrock-Untergrund der Siebziger führt die Recherche, um frühere Stationen seines musikalischen Schaffens aufzuspüren. Vor über 40 Jahren entstanden FORCE mit Morris, Sängerin Simona Queen und Basser Larry Brown (später auf zwei IRON MAN-Alben aus den Neunzigern zu hören). Fans von frühem US-Metal dürfen bei FORCE durchaus ein Ohr riskieren, das Material der vermutlich Mitte der Achtziger aufgelösten Formation gibt's seit Frühjahr 2017 als Compilation auf CD.
Auch wenn das vorliegende Album von 2009 noch vergleichsweise "aktuell" ist, hat die Bandbesetzung erneut gewechselt, Drummer Dex Dexter und Sänger Joe Donnelly sind seit Jahren nicht mehr dabei. Am Mikro steht seitdem Dee Calhoun, der mit seiner kräftigen Stimme dem IRON MAN-Sound eine leicht aggressivere Note verliehen hat, aber auch mit moderaterem Material wie dem unten verlinkten "Fallen Angel" gut umzugehen weiß. Zehn Jahre lang hatte es bis zum Erscheinen von "I have returned" kein Studioalbum mehr gegeben, das Comeback ist auch mit größerem Abstand betrachtet eine reife Leistung.
Natürlich klingt das Ganze
wunderbar altmodisch, ohne jedoch auf der Retro-Schiene zu fahren.
Muss man ja schließlich nicht, wenn man selbst schon über
Jahrzehnte mit dabei ist. IRON MAN spielen auch auf dieser CD einen
angenehm warmen und organischen Sound, der schnell ins Ohr geht.
Den Doom Metal hat hier selbstredend niemand neu erfunden oder
entscheidend verändert, aber das schmälert mit starken Riffs
garnierte Stücke wie "Run for the Light" oder "Curse the Ages" in
keiner Weise. Weitere Highlights sind der Titelsong, "Gomorrah
Gold", das schleppend aufgebaute "Fallen Angel" oder der
Abschlusstrack "Among the Filth and Slime", also im Prinzip locker
zwei Drittel des gesamten Albums.
Im Moment scheinen IRON MAN zum Warten verurteilt zu sein, denn Albert Morris III (der optisch wie der Fred Williamson des Doom Metal aussieht) geht es offenbar gesundheitlich nicht besonders gut. Wäre schade, wenn IRON MAN nicht wieder zurück in die Spur finden würden, denn über all die Jahre haben sie diverse Trends klar umschifft und dem Doom die Treue gehalten - das sollte auch weiterhin belohnt werden.
- Stefan - 10/2017
Wie klingt das erste
Solo-Album der Frau, die bei Courtney Loves HOLE für ein Album am
Bass stand und später bei den SMASHING PUMPKINS eine Zeitlang für
Live-Auftritte einsprang? Es hätte eines der vielen
Post-Grunge-Alben werden können, ein kurzer Adrenalinschub und
schnell wieder vergessen, oder das angestrengte Bass-Gefrickel-Werk
einer soliden Zeitarbeiterin, die der Welt nun zeigen will, dass
sie mehr kann, als die tiefen Töne für Bands von ausgeprägten
Persönlichkeiten beizusteuern.
Schon früh in der kreativen Szene von Montreal verwurzelt (einer
der späteren Schlagzeuger von Godspeed You! Black Emperor war ein
Mitbewohner), arbeitete Melissa Auf der Maur während ihres Studiums
als DJ und spielte in einer lokalen Alternative-Rock-Band. Mit
einem Uni-Abschluss in Fotografie 1994 hätte der weitere
künstlerische Weg durchaus anders aussehen können, und wenn man
Interviews mit ihr liest, könnte man den Eindruck gewinnen, als
wären die folgenden sechs Jahre ein großes Abenteuer gewesen, in
das sie auch eher zufällig reingeraten war. Nach Ablauf des Vertrag
mit HOLE wollte sich Melissa Auf der Maur musikalisch
weiterentwickeln; die schon lange bestehende Freundschaft mit Billy
Corgan führte dann zu einer einjährigen Live-Mitarbeit in dessen
Band, bis sich ab 2000 die ersten Solo-Aktivitäten entwickelten.
Ich habe lange überlegt, welches der zwei Solo-Alben ich für die
"Herbstmusik" wählen will, das selbstbetitelte Debut von 2004 oder
das 2010er "Out Of Our Minds". Entschieden habe ich mich für das
erste Album, welches keine der eingangs genannten Befürchtungen
erfüllt. Melissa Auf der Maur hat hier die Rockmusik zwar auch
nicht neu erfunden, doch mit befreundeten Musikern wie Josh Homme,
James Iha oder Mark Lanegan ein Album geschaffen, welches die
Einflüsse der Bands in denen sie gespielt hat, nicht verleugnet und
zeigt, dass sich die Dame in den vergangenen Jahren auch mit dem
Schreiben von Songs mit eigener Handschrift beschäftigt hatte.
Selbstredend, dass sie niemand anderen an den Bass lässt. Die
Stimme, die man bisher nur aus den background vocals von "Celebrity
Skin" von HOLE kannte, erzeugt ambivalente Gefühle - soll man vor
so viel Lieblichkeit niederknien oder soll man
sich vor der rothaarigen Frau fürchten? Sehr schön dargeboten wird
das beim brachialen "Followed The Waves". Manchmal erinnert der
Gesang etwas an die ätherischen "Blonde Redhead", bei "Taste You"
zum Beispiel. Musikalisch verewigt haben sich die Freunde von den
QUEENS OF THE STONE AGE auf "I'll Be Anything You Want", das hätte
auch gut seinen Platz auf einem ihrer Alben aus dieser Zeit
gefunden. "Overpower Thee" besteht nur Gesang und Piano, sofort hat
man die Künstlerin im langen dunklen Samtkleid mit armlangen
Handschuhen im Nachtclub vor Augen. Das abschließende "I Need, I
Want, I Will" mit seinen überlagernden Gesangsspuren und
Elektronikeinsatz lässt schon etwas vom erst sechs Jahre später
erscheinenden hervorragenden Zweitwerk "Out Of Our Minds" erahnen,
welches als Album auf eigenem Label, Comic und Film rauskam, was
der Absicht der Musikerin entsprach, verschiedene künstlerische
Ausdrucksformen miteinander zu verbinden. Also kein homogenes (im
Sinne von Gleichförmigkeit) Album, was es auch jetzt, nachdem ich
es für die "Herbstmusik" nach ein paar Jahren wieder aufgelegt
habe, zu einem spannenden Erlebnis machte. Man muss manchen
Rezensenten recht geben, die dem Album einen etwas altmodischen
Stil attestierten, der zehn Jahre zuvor modern gewesen war, was
aber aus meiner Sicht keinen Mangel darstellt.
Leider hat man von Melissa Auf der Maur in den letzten Jahren
nichts mehr in Form neuer Alben oder Konzerte gehört, sie betreibt
heute mit ihrem Mann ein Kulturzentrum in der Kleinstadt Hudson im
Bundesstaat New York. Darum bleiben nur Videos früherer
Live-Auftritte um festzustellen, dass Frau Auf der Maur nicht nur
eine herbe Schönheit ist, sondern auch den Knaben an den Gitarren
in jeder Hinsicht die Show stiehlt. Sehr berührend fand hier ich
das "Paranoid"-Cover zu Ehren des kurz zuvor verstorbenen Peter
Steele, womit ich an Stefans IRON MAN-Beitrag anschließe.
- Martin - 11/2017
Einem
Interview zufolge ist der Name dieser russischen Indie-Band von
einer japanischen Gameshow inspiriert, auch wenn das auf den
ersten Blick so gar nicht zusammenpasst: Der ausgelassene
Irrsinn der namensgebenden TV-Show (einfach mal YouTube
konsultieren für ein paar Ausschnitte!) kann doch unmöglich in
Verbindung gebracht werden mit dem eher melancholisch-düsteren
Sound der in Moskau ansässigen Formation, aber so ist das nun
einmal mit der Kunst... sie schlägt bisweilen schon bizarr
anmutende Wege ein.
"Happy Way in the …" war das Debutalbum der zu diesem Zeitpunkt schon vier Jahre bestehenden Band, die zu Beginn noch enger am britischen Post-Punk der ersten Stunde orientiert war, sich dann aber davon entfernte, ihre Songs etwas leichter und melodiöser gestaltete. HUMAN TETRIS sind Teil einer in den letzten Jahren munter angewachsenen großstädtischen Indie-Subkultur in Russland, die jedoch das Problem hat, dass zwar Netzwerke im Underground existieren und genutzt werden, mangels Möglichkeiten zu echter Professionalisierung aber keine große Chance besteht, seinen Lebensunterhalt nur über die Musik bestreiten zu können.
Manches auf dem Album klingt noch etwas unausgereift und gerade deshalb charmant, die Vorbilder machen sich bemerkbar, aber das Potenzial lässt sich nicht leugnen. Die Melodien in "Summer in Crimea" oder "Cold Wind" können mit Songs großer Band locker mithalten, nur etwas Feinschliff beim Songwriting wäre vielleicht noch hier und da nötig. Teilweise setzen HUMAN TETRIS auch große, raumgreifende Passagen ein, ohne diese allerdings wie beim Postrock in überlange Epen münden zu lassen. Nicht jeder Track zündet gleich auf Anhieb, aber bei Songs wie "Silver Tears" wurde schon vieles richtig gemacht und den offensichtlichen Joy-Division-Worship bei "Insanity" betrachtet der geneigte Kenner sicher auch mit gewissem Wohlwollen.
Bei bandcamp.com liegen die bisher veröffentlichten Werke zum Download vor, kostenfrei lässt sich das Album und EPs zum Antesten auch (in kompletter Form) vorher anhören. Wem der Sinn nach mehr steht, der kann sich gleich alle Releases (sieben an der Zahl) für aktuell knapp 20 Euro als Download im Paket kaufen oder nach Belieben auch noch was drauflegen, um die zwischenzeitlich sogar mal aufgelöste und 2016 reaktivierte Band zu unterstützen. Die angebotenen Formate umfassen MP3, FLAC, ALAC (Apple Lossless), AAC, Ogg Vorbis, WAV und AIFF, um dem Nerd so richtig Zucker zu geben. Konventionelle Tonträger gibt's wiederum bis dato keine, Käufer von CDs oder Vinyl müssen also auf die Digitalvariante ausweichen.
- Stefan - 11/2017
"Belfry" steht
im Englischen für einen Glockenturm, wobei das markante
Exemplar auf dem Cover dieses Albums keine Fotomontage
darstellt, sondern den Turm der früheren Pfarrkirche St.
Katharina der Ortschaft Graun in Südtirol zeigt, die im Zuge
eines großen Stauseeprojektes überflutet worden war. Der heute
unter Denkmalschutz stehende Kirchturm blieb erhalten, handelt
es sich doch um ein Bauwerk aus dem 14. Jahrhundert. Die
übrigen Gebäude wurden gesprengt, die zwangsweise umgesiedelten
Bewohner nur in geringem Umfang entschädigt. Dafür ist der Lago
di Resia (dt. Reschensee) mittlerweile ein beliebtes Fotomotiv,
in erster Linie natürlich wegen des 2009 restaurierten
Campanile (freistehender Kirchturm, in Italien häufiger
vorzufinden).
Soviel zum Thema Reiseführerwissen, weiter geht es mit Musik: MESSA (dt. "Messe") sind eine noch junge Band, die erst ein vollständiges Album veröffentlicht hat, damit aber im Doom-Underground schon einiges an Beachtung fand. Zu Recht, denn dem Quartett um Frontfrau Sara gelang in einem sehr gut bevölkerten Genre, in dem in jüngerer Vergangenheit auch manche vielleicht nicht ganz so bedeutende Scheibe produziert wurde, zwar kein Anwärter auf einen Originalitätspreis, aber eine CD, die man gerne öfter laufen lässt.
Retro-orientierte
Bands mit Frontfrauen gibt's ja mittlerweile gefühlt auch wie
Sand am Meer bzw. wie Nebeltage im Herbst. Vergleiche mit JEX
THOTH zu Zeiten ihrer ersten Veröffentlichungen sind nicht
schwer zu ziehen, auch Soundkollegen wie die Belgier BATHSEBA
kommen dem geneigten Doomhead in den Sinn. Wobei MESSA mit
einigen Drone-Elementen arbeiten, die im Gegensatz zu
Extremisten wie SUNN O))) allerdings nur überschaubaren Platz
einnehmen, während der Großteil des Materials von eher
konventionell strukturierten Songs mit schön wuchtig
produzierten Gitarren dominiert wird, die auch bei Fans von
Gruppen wie ELECTRIC WIZARD heimelige Stimmungen auslösen
dürften.
Ausschließlich griffige, sofort eingängige Stücke am laufenden Meter liefern MESSA wiederum auch nicht ab, neben dem Drone-Track zum Einstieg stehen ruhigere Passagen in Kontrast zum geradlinigen Doom Metal. Sogar ein Jazz-Intermezzo taucht mittendrin plötzlich auf und das so selbstverständlich, dass es weder gezwungen noch unpassend wirken würde. Gerade diese nicht unbedingt vorhersehbaren Zutaten verleihen "Belfry" die richtige Würze, um das Album nicht in der Masse untergehen zu lassen. Man darf gespannt sein, wie MESSA in Zukunft ihre Musik strukturieren werden: mehr in Richtung Genrestandards, die leichter ins Ohr gehen, aber auch weniger Potenzial für Überraschungen mitbringen, oder mit noch mehr Sinn für Experimentelles.
In der vorliegenden Form ist die gebotene Mischung sicher nicht perfekt oder schon erwachsen-ausgereift, aber für ein Erstlingswerk kann man doch eine gewisse individuelle Handschrift erkennen und das ist ja auch eine durchaus bemerkenswerte Leistung. Am besten in Ruhe arbeiten lassen, dann dürfen wir angesichts wirklich gelungener Songs wie "Blood" oder "New Horns" in Zukunft mit weiteren interessanten Veröffentlichungen rechnen, ein übertriebener Hype dagegen könnte eher kontraproduktiv wirken.
- Stefan - 11/2017
Mitte der
Siebziger standen die musikalischen Zeichen in England ja
eigentlich auf Sturm: Der Punk formierte sich, um den behäbig
gewordenen Progrockern mit ihren pompösen Inszenierungen vors
Schienbein zu treten. Frischer Wind war notwendig geworden, denn
wirklich lebensnah waren Songs mit eskapistischen Fantasythemen
jenseits der Zehn-Minuten-Grenze nun nicht gerade zu nennen. Und
doch erschien 1976 in dieser Umgebung ein triumphales Debutalbum,
das Rockmusik ganz dezidiert als Kunstform zelebrierte: mit dem
literarischen Werk von Edgar Allan Poe als Grundlage, visuell
veredelt durch ein mit stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Fotos
angereichertes Booklet. Auch kompositorisch erschuf das Duo Alan
Parons und Eric Woolfson eine überaus stimmige Klangwelt, in der
sich wie selbstverständlich düstere Passagen, Rock und eine
instrumentale Mini-Sinfonie (die Seite 2 des Albums dominiert)
auf das Perfekteste miteinander vereinen.
Wie oft ich diesen Meilenstein seit den späten Achtzigern gehört habe, vermag ich gar nicht abzuschätzen. Wobei darin auch gleich das Problem liegt: Beinharte Traditionalisten werden (mit gewissem Recht) darauf hinweisen, dass die im Jahr 1987 veröffentlichte Neufassung des Albums sich gegenüber dem Original zu viele Freiheiten bzw. Veränderungen herausnimmt. Von Orson Welles eingesprochene Textpassagen waren zwar schon 1976 aufgenommen worden, gehörten aber streng genommen nicht zum ursprünglichen Albumkontext und wurden erst im Rahmen der 1987er Version integriert. Auch zusätzliche Gitarrenparts und ein neu abgemischter, veränderter Drumsound sorgten für kontroverse Reaktionen, anschaulich nachzuhören zum Beispiel bei den unterschiedlichen Fassungen von "The Raven". Welche da nun die beste ist? Schwer zu entscheiden, wobei die neuere Version härter und rocklastiger klingt, was aber wiederum jene Hörer stören mag, für die das Original die erste Erfahrung darstellte. Mit der 2007 erschienenen Deluxe-Edition wurde man den verschiedenen Fraktionen gerecht: Sie enthält praktischerweise beide Fassungen, ergänzt mit insgesamt acht Bonustracks.
Mit Progressive Rock stand ich zwar nie auf
Kriegsfuß, aber es gibt in diesem Genre manches, das sich mir
durch überkomplizierte Songstrukturen und ausuferndes Gegniedel
mit einer gewissen Zurschaustellung des eigenen Könnens nicht
gerade aufdrängt. Klassiker wie "Into the Everflow" ausgenommen,
ebenso Außergewöhnliches wie das italienisch-slowenische Projekt
DEVIL DOLL mit seinem schier unfassbaren Meisterwerk "Dies Irae".
Auch "Tales of Mystery and Imagination" zählt zu diesem erlesenen
Kreis an Alben, die das Progressive niemals aufdringlich
einsetzen, stets die kompositorische Geschlossenheit im Auge
behalten. Sogar dann, wenn das Werk wie im vorliegenden Fall nach
der A-Seite mit orchestrierten Rocksongs im noch eher
konventionell wirkenden Vier-Minuten-Schema auf der zweiten
LP-Seite einen faszinierenden (eigentlich nur scheinbaren) Bruch
erlebt. Ein rein instrumentales Stück mit 16 Minuten Spieldauer,
über weite Strecken klassisch instrumentiert, erschließt dem
Album eine zusätzliche Dimension und lässt die Platte noch
prädestinierter erscheinen für die ausgedehnten nächtlichen
Listening Sessions unter dem Kopfhörer.
Und wenn der Morgen graut und der Zuhörer mit dem sanft
ausklingenden "To one in Paradise" entlassen wird, wenn das
letzte Glas Wein geleert ist (muss ja kein Amontillado sein, denn
wer will schon eingemauert werden?), dann wird klar, dass knappe
43 Minuten - länger ist das Album tatsächlich nicht - völlig
ausreichend sind, um ein überaus reichhaltiges und vielseitiges
Stück Musikgeschichte für die Ewigkeit darzustellen. Das
Verschmelzen von Rock mit Klassik ist nach meinem Dafürhalten
kaum gelungener vorzufinden als hier, wozu ganz besonders auch
die düstere Atmosphäre (dank Poes literarischer Vorlagen) und die
sehenswerte Umsetzung des Booklets einen unschätzbaren Beitrag
geleistet haben. Das ergibt unterm Strich ganz schnörkellos einen
Meilenstein, den man als aufgeschlossener Musikhörer zumindest
ein Mal im Leben gehört haben sollte.
- Stefan - 11/2017
Stefan wohnte
drei Türen weiter, und wir benutzten dieselbe Küche im
Studentenwohnheim, deren Kühlschränke im Sommer Ameisen
bevölkerten. Regelmäßig kam ein Mensch vorbei, der sich als
Martin vorstellte und einen langen Wildledermantel trug und
zusammen mit Stefan ein Gothic-Rock-Duo bildete. Stefan studierte
E-Technik, was Martin eigentlich genau arbeitete, weiß ich nicht
mehr. Von Stefan bekam ich etwa zeitgleich mit der Demo-Kassette
seiner Band das ein Jahr vorher erschienene Album "Some Girls
Wander By Mistake" von den SISTERS OF MERCY, welches ihre
zwischen 1980 und 1983 auf diversen Singles und EPs
veröffentlichen Songs enthält.
In einem Kellerclub durfte ich einem Konzert von
Stefans Band beiwohnen. Die Erinnerungen daran sind verschwommen,
es war laut, kunstneblig und man bekam die Augen von den
unerwartet aufblendenden Scheinwerfern aus dem Hintergrund
verblitzt. So beschreibt auch Andrew Eldritch, Sänger und Kopf
der SISTERS, deren erste Auftritte im Booklet: "We used a lot
of smoke, very few lights, stepped right back und just made
space where you could lose yourself (but more probably find
yourself) in a tide of colour and noise". Keine Frage,
Stefan und Martin waren keine Kopisten, aber große Fans und nicht
nur der Drum-Computer war eine Referenz an die Heroen.
Eben jener Drum-Computer, hier im Vergleich zu den späteren Alben
noch deutlich als solcher zu erkennen, eine eingängige Melodie,
ein markanter Bass und eine dunkle Stimme bilden das Grundgerüst
vieler Stücke auf "Some Girls Wander By Mistake". JOY DIVISION
waren stilbildend und legten das geistige Fundament des
Gothic-Rock, die SISTERS machten ihn mit amphetaminhaltiger
Aufgedrehtheit tanzbar und erlaubten ihm auch in geschlossenen
Räumen Sonnenbrillen und Hüte mit breiten Krempen.
Die SISTERS sahen sich in ihren ersten Jahren eher als Live-Band,
die Platten als ein anderes Medium, das sie gerade erst zu
beherrschen lernten. "The records… may not sound like anybody
else's, they may not even sound like records, but we loved
them. For what's it's worth" (Eldritch).
"Temple Of Love" (mit Ofra Haza 1992 nochmal aufgenommen) "Floorshow" oder "Adrenochrome", füllten die Tanzflächen der Independent-Clubs, aber auf "Some Girls Wander By Mistake" (ein Zitat aus dem live und auf Demos oft vor "Adrenochrome" gespielten Leonard Cohen-Cover "Teachers") finden sich auch elegische Stücke wie "Phantom", "Fix" oder "Burn", bei denen ich mich oft fragte, wie diese sich bei JOY DIVISION mit ihrer menschlichen Drum-Machine Stephen Morris angehört hätten. Zwei Covers, "1969" von den STOOGES und "Gimme Shelter" von den ROLLING STONES sind auf der Zusammenstellung zu hören, wie die SISTERS überhaupt ein Faible für Neuinterpretationen hatten (allesamt auf youtube zu finden), "Knockin' On Heavens Door" erscheint dabei noch naheliegend, interessanterweise funktionieren aber auch "Jolene" (Dolly Parton) oder "Gimme! Gimme! Gimme! (A Man After Midnight)" von ABBA - danach hörte ich das Original mit anderen Ohren.
Mir gefällt der rohe Sound auf "Some Girls…",
dessen Melodien sich nach wenigen Takten im Rückenmark
festsetzen. Vielleicht waren die SISTERS auch nie besser und
aufregender als in ihren frühen Jahren. Die von 1985 bis 1990
veröffentlichten Alben wurden mir zu hardrock-lastig, irgendwo
hatte auch Jim "mehr Bombast" Steinman seine Finger drin. Diese
bekommt man mittlerweile im Schuber für wenige Euros, oder man
legt sich komprimiert "A Slight Case Of Overbombing (Greatest
Hits Volume One)" von 1993 zu.
Stefans und Martins Band löste sich auf, bald nachdem Stefan sein
Studium beendet hatte. Stefan arbeitet, was ich zuletzt hörte,
als Elektroingenieur, Martin macht immer noch Musik, aber keinen
Gothic-Rock mehr. Andrew Eldritch tourt nach diversen
Streitereien und personellen Umbesetzungen, aus denen schon früh
THE MISSION hervorgingen, weiterhin mit seinen SISTERS OF MERCY
durch die Welt, wo er auch neue Songs spielt. Das Design der
offiziellen Homepage wurde wohl seit 1998 nicht mehr verändert.
Er kündigt seit 25 Jahren ein neues Album an.
- Martin - 12/2017
Mit MY DYING
BRIDE habe ich mich schon seit Mitte der Neunzigerjahre rein gar
nicht mehr beschäftigt, die einzigen Spuren hinterließen
Sampler-Beiträge bzw. der eine oder andere Videoclip. Präsenter
ist dagegen nach wie vor das erste vollständige Album, vor 25
Jahren im Mai 1992 erschienen. Zusammen mit ANATHEMA und
natürlich PARADISE LOST (hier speziell "Gothic") waren MDB eine
der aufstrebenden Bands auf Peaceville Records, die zwar aus dem
Death-Metal-Untergrund kamen, sich aber relativ schnell in eine
doomlastige Richtung entwickelten und mit dem Verzicht auf
tiefergelegtes Kellergrowling auch gesanglich neue Wege
einschlugen. "As the Flower withers" steht in dieser Hinsicht zum
Teil noch vor jener Übergangsphase.
Es ist spieltechnisch sicher manches noch wenig ausgereift und klingt etwas holprig, aber gerade das macht den Charme der Scheibe aus. Die Todesmetall-Wurzeln werden mit Blick auf Gitarrensound und Vocals noch gut bedient, doch Keyboards, Violine und das dominierende schleppende Tempo der langen Stücke weisen bereits auf MDBs musikalische Zukunft voraus. In schönem Kontrast stehen dazu die schnelleren Passagen, wobei das alles dennoch unter einen Hut passt und nicht wie ein inhomogenes Sammelsurium wirkt.
Das Album beginnt etwas unentschieden mit dem
instrumentalen Keyboard-Track "Silent Dance", der sich nicht so
ganz darauf festlegen mag, ob er mit über zwei Minuten nicht
vielleicht doch "nur" ein überdimensionales Intro darstellt.
Nostalgische Erinnerungen weckt das folgende "Sear me",
seinerzeit erstmals auf dem Peaceville-Promotape "Aspects of
Volume 4" gehört: doomiger Death Metal, von Slowmotion bis
Midtempo rangierend. Mit diesem Neunminüter war die
Marschrichtung der Scheibe abgesteckt und er traf damals sicher
den Nerv von so manchem Todesmetaller, dem der Sinn nicht mehr
nur nach Überschallgeprügel stand.
Was den Reiz dieser Platte
ausmacht, ist also in besonderer Weise aus ihrer Zeit heraus zu
verstehen. Eine Phase des Übergangs, in der man sich als Fan
zusammen mit einem Genre weiterentwickelte. Die einen bogen ab in
den Black Metal, andere gaben Doom und Gothic den Vorzug. Dank
stilistisch bewusst offen ausgerichteter Label wie eben
Peaceville war es aber auch möglich, sich mit dem Repertoire
einer einzigen Plattenfirma all das Interessante herauszupicken,
was einem dort scheuklappenfrei präsentiert wurde.
EBM & Industrial wie G.G.F.H. oder SONIC VIOLENCE, Schwarzmetall (DAKTHRONE), klassischer DM-Untergrund (AUTOPSY) oder wiederentdeckter Doom (PENTAGRAM): alles auf einem Label und zugleich widersprach sich dies trotz unterschiedlichster Stilrichtungen nicht. War man nicht hermetisch eingemauert in einer selbstgewählten musikalischen Nische oder konstruierte bizarre Dolchstoßlegenden ("Der Grunge hat den Metal getötet!"), war das eine Zeit, in der sich neue Horizont eröffneten. Und vor diesem Hintergrund betrachtet schwingt bei "As the Flower withers" auch heute noch eine besondere Aura mit.
Für Hörer, die MY DYING BRIDE nur von ihren aktuelleren Alben her kennen, mag der Erstkontakt mit dieser Scheibe vielleicht befremdlich klingen: zu harsch der Gesang, zu rumpelig manches Arrangement. Aber für alte Männer wie den Verfasser dieser Zeilen hat sich die Platte einen anheimelnden Charme bewahrt, bei dem gar nicht besonders viel Nostalgie im Spiel sein muss, um sie auch heute noch gut zu finden. Songs wie "The Bitterness and the Bereavement" haben sich mehr als ordentlich gehalten und generell kommt es ja nicht auf das musikalische Können per se an, sondern auf die Fähigkeit, im Rahmen seiner Möglichkeiten etwas zu erschaffen, das die Zeit überdauert und mehr darstellt als nur oberflächliche Hintergrundbeschallung.
- Stefan - 12/2017