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 „The world is full of Kings and Queens
Who blind your eyes then steal your dreams.“
(BLACK SABBATH – Heaven And Hell)



[01] BLACKFINGER – Blackfinger (2014)

Kurz vor seinem Tod Ende August war Eric Wagner, der Doom-Gemeinde als ehemaliger TROUBLE-Sänger in bester Erinnerung, noch mit seiner Band THE SKULL auf Tour gewesen, bevor ihn dann eine Covid-Erkrankung dahinraffte. Offenbar aus Überzeugung ungeimpft eine Konzertreise anzutreten, war ein im Nachhinein betrachtet zu hohes Risiko. Auch wenn Wagner meines Wissens nicht (zumindest öffentlich) in absurde Schwurbelgefilde abdriftete wie sein Doom-Kollege Scott „Wino“ Weinrich von THE OBSESSED, fragt man sich schon, welchen höheren Wert eine angebliche „Prinzipientreue“ eigentlich haben soll, wenn sie am Ende nur zu einem unnötig frühen Tod führt, weil unbedingt der bösen „Schulmedizin“ widersprochen werden musste.

Ebenso wie mit THE SKULL nahm Eric Wagner auch mit BLACKFINGER zwei Alben auf, die nicht unbedingt an den Nimbus der TROUBLE-Jahre anknüpfen konnten, aber gutklassigen Doom Metal boten, den man immer wieder mal auflegen kann. Anfang 2014 kam das Debütalbum auf den Markt, veröffentlicht vom deutschen Doom-Qualitätslabel The Church Within Records – unter anderem bekannt durch Bands wie ORCHID, LORD VICAR oder REVEREND BIZARRE.

Im Vergleich zum Nachfolger „When Colors fade away“ von 2017 besticht der Erstling durch eine stellenweise etwas ruhigere Gangart mit sehr gelungenen balladesken Momenten, die dem Album eine größere stilistische Bandbreite verleihen und ihm mehr Tiefe geben. Besonders ein Song wie „For one more Day” ist hier herauszuheben. Sein Text entfaltet unter dem Eindruck von Wagners Ableben mit Zeilen wie „I’m so sorry we didn’t get the chance to say goodbye” oder „With all my heart and all my soul grow old with me” mit dem heutigen Wissen gehört noch einmal besondere Kraft, auch wenn der Anlass ein trauriger ist.

Aktuell scheint das Album zumindest auf CD vergriffen zu sein und die LP-Preise zumindest bei Discogs liegen jenseits der Schallmauer (außer vielleicht für die Geld-spielt-keine-Rolle-Fraktion). Wer auch mit der digitalen Variante leben kann, der wird bei Bandcamp fündig: https://blackfinger-cwr.bandcamp.com

- Stefan - 10/2021


[02] BLOOD CEREMONY – The Eldritch Dark (2013)

Eigentlich hätte ich die Band BLOOD CEREMONY bei einer spontanen Selbstbefragung als Briten verortet, doch tatsächlich stammen die drei Herren und die eine Dame aus Kanada. Bei aller territorialen Verirrung lässt die Musik selbst keine Unklarheiten offen: In einem Genre mit überreichem Angebot hat sich „The Eldritch Dark“, der dritte Longplayer der im Jahr 2006 gegründeten Formation, als dauerhaft gut und grundsolide entpuppt. Rockbands mit Frauen am Mikro und ausgeprägten Seventies-Einflüssen gibt es ja nun zweifelsohne eine ganze Menge und nicht alles davon hat sich wie auch bei anderen Stilrichtungen als beständig erwiesen.

Ein wenig Weihrauchgewaber, okkult anmutende visuelle Gestaltung, Zitate aus alten Horrorstreifen der Sechziger und Siebziger, musikalische Zutaten aus jener Zeit sowie ein entsprechendes Erscheinungsbild und fertig ist der Retro-Zauber. Zugegeben, etwas gehässig mag das jetzt schon klingen und ähnliche Elemente finden sich auch bei BLOOD CEREMONY und dem vorliegenden Album wieder, aber die Band macht eben etwas Gelungenes daraus und versinkt nicht identitätslos im rückwärtsgewandten Klischeesumpf.    

Ganz grob ließe sich die Musik zwischen Jethro Tull und klassischem Siebziger-Doom einordnen, wodurch Black Sabbath als Bezugspunkt nicht unerwähnt bleiben können. Erfreulich ist der musikalische Aufbau des Longplayers: mal flotter arrangiert wie beim Video-Track „Goodbye Gemini“, dann wieder etwas ruhiger und midtempoorientiert für die entspannteren Momente. Auch eine reine Ballade wie „Lord Summerisle“ (remember THE WICKER MAN?), gesungen von Bassist Lucas Gadke, passt wunderbar ins Bild, wobei vergleichbare Songs von frühen Sabbath-Alben hier ebenso Pate gestanden haben dürften wie Werke aus der britischen Folk-Szene der Siebzigerjahre.         

Besonders effektiv kommen die Stärken der Scheibe bei „Ballad of the Weird Sisters“ und dem Titelsong zur Geltung: Flöte und Orgel sind gleichberechtigt neben klassischer Rock-Gitarre mit knackigen Riffs platziert, eingebettet in schlicht und ergreifend gutes Songwriting. BLOOD CEREMONY haben verstanden, dass Retro-Attitüde allein eben nicht genügt – es steht und fällt alles mit einprägsamen Songs. Daran herrscht auf „The Eldritch Dark“ kein Mangel, auch wenn es hier nicht den einen ganz großen, hitverdächtigen Ausnahmetrack gibt, an dem man sich freilich recht schnell auch wieder sattgehört haben kann. Hat auf der anderen Seite den angenehmen Nebeneffekt, dass „The Eldritch Dark“ auch acht Jahre nach Veröffentlichung als Album immer noch funktioniert.

Video "Summerisle" - geht nur extern
Video "Eldritch Dark" - geht nur extern


- Stefan -  10/2021



[03] PONCE PILATE – Les Enfants du Cimetière (1985)

Kenner des abseitigen französischen Films werden mit den verschrobenen, eigenwilligen Filmen von Jean Rollin vertraut sein: häufig mit Vampir-Thematik, aber derart weit weg vom leicht konsumierbaren Mainstream, dass nur eine kleine, aber umso treuere Fangemeinde damit etwas anfangen kann. Das Album „Les Enfants du Cimetière“ (zu Deutsch „Die Kinder des Friedhofs“) von PONCE PILATE weckt ähnliche Eindrücke – ganz so, als wäre man dieser Tage mit einem alten Renault R4 in der nebelverhangenen französischen Provinz unterwegs, um von Friedhof zu Friedhof zu fahren und nach Drehorten alter Rollin-Filme zu suchen.

Im Autoradio liefe dann dieses obskure Album, das die Band im Jahr 1985 im Eigenverlag als LP veröffentlichte. Nur 500 Exemplare hat es seinerzeit davon gegeben, von denen heutzutage naturgemäß nur noch schwer eines zu zivilem Preis aufzutreiben sein dürfte. Abhilfe schuf vor Jahren eine CD-Neuauflage mit Bonustracks, sodass es sich nicht mehr nur um eine sagenumwobene Rarität handelt. Die Musik von PONCE PILATE zu kategorisieren, ist keine leichte Aufgabe, denn die Band, deren Kern aus zwei Musikern bestand, streift zwar durch Einflüsse aus diversen Ecken, entwickelt dabei aber dennoch einen eigenständigen Charakter.

Zeitgenössisch, also eng angebunden an damals populären straighten Metal, klingen PONCE PILATE eher selten, auch das Tempo wird nur gelegentlich angezogen. Der etwas dünne Gitarrensound ist keine Metal-Dampfwalze, sondern mehr in den Siebzigerjahren zu Hause. Ein akustisches Intermezzo mit dem Titel „Laetitia“ erinnert an ähnliche Songs, wie sie Black Sabbath in frühen Jahren komponierten, der geschickt aufgebaute Track „Ponce Pilate“ beginnt mit Klavier und Gesang, um erst in den letzten zwei Minuten richtig an Fahrt aufzunehmen, wobei im Hintergrund die Keyboards den Siebziger-Prog-Hardrock wiederaufleben lassen. Was nicht verwundert, denn Bands aus dieser Zeit wie Deep Purple, Yes und Genesis (zu Peter-Gabriel-Zeiten), aber auch Black Sabbath und alte Scorpions (mit Uli Jon Roth) zählten zu den Einflüssen der beiden Franzosen.




Mit einem Stilmix dieser Art, der eine klassische Metal-Erwartungshaltung nur eingeschränkt bedient, und den spärlichen Möglichkeiten, eine LP im Eigenverlag zu vertreiben, war kommerziell gesehen kein Staat zu machen und so löste sich die Band dann auch recht bald auf, nachdem das einzige Album veröffentlicht war. Was bleibt, ist ein kauziges Kleinod des französischen Hardrock, das seine zwei großen Highlights ganz am Ende platziert: Die Ballade „Morphine Queen“ (hervorragend) und das von den französischen Landsleuten TENTATION in einer deutlich metallischeren Version gecoverte „Les Anges de Balthazar“.

Wer beim nächsten Frankreichurlaub den unstillbaren Drang verspüren sollte, jenen Ort aufzuspüren, an dem die mysteriösen Bandfotos für das vorliegende Album entstanden sind, der sollte dem Friedhof der kleinen Gemeinde Cour-Cheverny in Zentralfrankreich einen Besuch abstatten. Dort rückte einst die Band an einem Ostersonntag ein, um sich mit Kapuzenmänteln und anderem Schnickschnack ablichten zu lassen. Das Resultat passte perfekt zur Musik und unterstrich die Sonderstellung eines Albums, für das eine abgedroschene Vokabel wie „obskur“ wirklich einmal angemessen erscheint und zugleich als Kompliment verstanden werden darf.


- Stefan -  10/2021


[04] FRANCOIS DE ROUBAIX – Daughters of Darkness (1971)

Es gibt nicht viele phantastische Filme aus Belgien, die internationalen Erfolg für sich verbuchen konnten. Regisseur Harry Kümel schuf zwei von ihnen: die Jean-Ray-Verfilmung „Malpertuis“ (1972) mit Orson Welles und Mathieu Carrière sowie im Jahr zuvor den erotisch aufgeladenen Vampirfilm „Blut an den Lippen“, im englischsprachigen Raum unter dem Titel „Daughters of Darkness“ bekannt. Ein junges Paar auf seiner Hochzeitsreise findet darin den Weg in ein Hotel in Ostende, wo sich kaum jemand aufhält, denn es ist Nachsaison – die üblichen Touristen sind längst wieder nach Hause zurückgekehrt. Nur ein älterer Portier und zwei bemerkenswerte Frauen befinden sich noch an diesem Ort…

Eine gewisse Gräfin Bathory (Delphine Seyrig) hat sich mit ihrer Dienerin Ilona (Andrea Rau) in dem Hotel niedergelassen und wir erfahren schnell, dass die beiden Damen (in ihrer Erscheinung von Regisseur Kümel wie Marlene Dietrich und Louise Brooks inszeniert) keine normalen Gäste sind. Die Gräfin ist eine Vampirin, die auf weibliche Begleitung Wert legt. Als in der Umgebung diverse Morde geschehen, mit jungen blutleeren Frauen als Opfer, ist das frischvermählte Paar der betörenden Gräfin Bathory längst ins Netz gegangen. Es werden weitere Menschen sterben…

Was Regisseur Kümel mit großer Kunstfertigkeit zu einem sehr atmosphärischen Horrorfilm machte, vollendete Francois de Roubaix mit seiner Filmmusik. Der Franzose, der schon wenige Jahre später im November 1975 bei einem Tauchunfall starb, hatte damals bereits die Soundtracks zu Klassikern wie „Der eiskalte Engel“ mit Alain Delon komponiert und ist auch nach Jahrzehnten in der Popkultur lebendig geblieben. Ein Thema aus seinem Score zu „Der Kommissar und sein Lockvogel“ mit Lino Ventura zum Beispiel fand als Sample Eingang in einen Track von Robbie Williams und auch eine französische TV-Doku erinnerte an Roubaix.       

  

Die Musik zu „Blut an den Lippen“ legt sich perfekt als stimmungsvoller Klang unter die Bilder und greift die zauberhafte Stimmung des Films (die sich nach den Erinnerungen von Andrea Rau bereits am Set spüren ließ) in kongenialer Weise auf. Streicher und Klavier prägen den Score ebenso wie folkloristisch anmutende Elemente und man fühlt sich beim Hören sofort an den Ort des mysteriösen Geschehens versetzt. Altes Hotelgemäuer mit seinen zahlreichen Geschichten aus längst vergangenen Zeiten ist ohnehin ein Fall für sich und das entrückt wirkende Flair der Nachsaison mit fühlbarer Vergänglichkeit tut sein Übriges.

Verschiedene musikalische Motive der Musik werden von Multiinstrumentalist Roubaix in abgewandelter Form mehrfach aufgegriffen, wobei es ihm meisterhaft gelingt, auch Klänge einzusetzen, die nicht dem Klischee von traditioneller Horrorfilm-Schockmusik entsprechen. Teilweise fühlt man sich musikalisch sogar wie auf einen gruselig-traumhaften Jahrmarkt versetzt, bevor akzentuierte Streicher und Klavier wieder die vampiristische Bedrohung aufgreifen, die von Gräfin Bathory ausgeht. Diese Vielseitigkeit prägte das gesamte Schaffen von Francois de Roubaix, der Musik für ein traurig endendes Krimi-Drama ebenso überzeugend komponieren konnte wie den Score für eine turbulente Komödie mit Louis des Funès. Mit seiner Arbeit für „Daughters of Darkness“ hat er auch im Horrorfilm einen großartigen, bleibenden Eindruck hinterlassen.

-Stefan - 10/2021



[05] TEMPLE OF THE DOG – Temple of the Dog (1991)

Vor 30 Jahren nahm jenes Verbrechen seinen Lauf, dessen Ausläufer wir im Metal-Sektor noch heute spüren: der hinterhältige Mord am Schwermetall, der dahingemeuchelt wurde von einer eierlosen „Jammermusik“ namens Grunge. Diese Dolchstoßlegende hält sich ja bis heute hartnäckig und wird von Metal-Journalisten sogar bis ins Privatleben ausgedehnt. Damals in den schlimmen Neunzigern habe die holde Weiblichkeit ja jeden abgelehnt, der nach Metaller aussah und nicht wie ein Alternative-Rock-Zausel. Nun, es mag vielleicht auch an dem Umstand gelegen haben, dass bierbäuchige Zeitgenossen mit verwaschenen Manowar-Shirts nicht unbedingt das große, schier unwiderstehliche Geschenk der (männlichen) Menschheit an die Frauen gewesen sind – aber das nur am Rande.

Der Ursprung des vorliegenden Albums geht zurück ins Frühjahr 1990, als Andrew Wood (Sänger von MOTHER LOVE BONE) an den Folgen einer Überdosis starb. Sein Wegbegleiter Chris Cornell (SOUNDGARDEN) nahm mit anderen Freunden, die zum Kern von PEARL JAM wurden, eine LP im Gedenken an Wood auf, die dann im Zuge der Grunge-Euphorie selbst zum Hit wurde. Soweit die bekannten musikhistorischen Fakten. Mittlerweile ist auch Chris Cornell verstorben, was die Scheibe zusätzlich belastet oder mit Tiefgang versieht, je nach Sichtweise. In jedem Fall ist „Temple of the Dog“ kein Allstar-Projekt mit Grunge-Koryphäen, von geschäftstüchtigen Plattenfirmen-Managern zusammengestellt, sondern von der Trauer um einen verstorbenen Freund geprägt, was sich in den Songtexten ebenso äußert wie in der allgegenwärtigen Stimmung des Albums und somit gar keine Unbeschwertheit transportieren kann.

Dadurch mag „Temple of the Dog“ auf den ersten Eindruck stellenweise nur wenig zugänglich wirken, etwa wenn ein jamsessionartiger Elfminüter wie „Reach Down“ gleich an die zweite Position gesetzt wird, wo er im Sinne eines durchkalkulierten Hit-Albums eigentlich eher „stören“ würde. Aber dann folgen ja bereits „Hunger Strike“ mit Gastsänger Eddie Vedder, die balladesken Stücke „Call me a Dog“ und „Times of Trouble“ und alles ist gut. Es mag sein, dass diese Art von Musik keine ausgelassene Party-Stimmung versprüht, jede Fröhlichkeit vermissen lässt, aber das über Jahre anhaltende Bashing als vermeintliche Depri-Mucke seitens „echter“ Rocker nahm bisweilen groteske Züge an. Immerhin liest man in Rock- und Metal-Foren oft genug davon, dass auch dieses Album so manchem durch sehr dunkle Zeiten in seinem Leben geholfen habe.

Neben den bekannten Songs wie dem erwähnten „Hunger Strike“ (durch den Videoclip damals ziemlich präsent) überzeugen auch die eher in der zweiten Reihe agierenden, bisweilen etwas sperrigen Stücke wie „Your Saviour“, wodurch sich am Ende bei immerhin 55 Minuten Spielzeit ein Album ergibt, das nicht von zwei, drei Hit-Singles mit beigefügtem Füllmaterial leben muss, um auf LP-Länge zu kommen. Die Verfügbarkeit auf Tonträgern ist angesichts der namhaften Beteiligten auch heute noch kein Problem – es sei denn, man ist LP-Freund und orientiert sich an den durchaus saftigen Preisen für zeitgenössische Vinyl-Ausgaben, die auf Plattformen wie Discogs verlangt werden (was auch für jüngere Reissues gilt, für die man ebenfalls tief in die Tasche greifen muss). Auf CD gibt’s das Ganze für unter zehn Euro, was nicht nur als Anti-Preistreiber-Alternative mehr als in Ordnung geht.


-Stefan  - 11/2021



[06] LUDWIG HIRSCH – Dunkelgraue Lieder (1978)

Der offensichtliche, aber auch etwas abgeschmackte Einstieg in einen Text über Ludwig Hirsch wäre schon die Auswahl des vorzustellenden Albums gewesen, nämlich die zweite Platte von 1979 mit dem später als prophetisch missverstandenen Titel „Komm großer schwarzer Vogel“ – weil Hirsch vor zehn Jahren, bereits schwer erkrankt, durch Freitod aus dem Leben schied (und der Text des Titelstücks so eng mit seinem eigenen Ende verbunden zu sein schien, dass es einem gruselig zumute werden mag).

Aber das wäre zu kurz und zu sehr an der Oberfläche gedacht. Der Sänger und Schauspieler Ludwig Hirsch war nicht etwa ein durch und durch nur am Morbiden hängender Künstler, seine Texte sind auch durchzogen von einem schwarzen Alltagshumor, hinter dem eine große Beobachtungsgabe mit Blick auf menschliche Schwächen und Abgründe steckt. Aber damit wir uns richtig verstehen: Moll ist auch auf Hirschs Debüt „Dunkelgraue Lieder“ die vorherrschende Klangfarbe, da gibt es viel Melancholisches und Trauriges, aber eben gerne in ein sanftes melodisches Gewand verpackt, wodurch die Songs trotz der teils harten und tragischen Inhalte auch etwas Tröstliches in sich tragen.

Der ambivalente Blick auf die verstorbene „Omama“ im Eröffnungsstück bringt das gleich zu Beginn auf den Punkt, gefolgt vom wohl morbidesten Titel der LP: „I lieg am Ruckn“ – geschrieben in Ich-Perspektive als Leiche im Sarg, die dort Rückschau hält auf eine vergangene Beziehung und bemerken muss, wie ihr schön langsam die Würmer ins Hirn kriechen und dort ein Festmahl beginnen. Ein grausiges Detail? Nun, vielleicht auch deshalb, weil man im Gegensatz zu den inbrünstig gegrunzten Ausweidungsphantasien zumeist auf Englisch singender Death-Metal-Gruppen alles wunderbar deutlich verstehen und sich vergegenwärtigen kann.

Ganz so genau will man dann doch lieber nicht wissen, was sich wohl „Der Herr Haslinger“ so alles vorstellt, wenn er den Lausbuben in den kurzen Lederhosen und den Mäderln in den kurzen Röckchen hinterherschaut, bis er am Ende eins von den Kindern, die er so gern hat, vermutlich umbringt. Da gibt es textlich so manche bittere Pille zu schlucken wie in „Der Dorftrottel“, wenn ein ländlicher Lynchmob über einen Unschuldigen herfällt und ihn umbringt. Anheimelnd melancholisch ist das keineswegs mehr, sondern bemerkenswert hart und näher an der Realität als das, was gerne schönfärberisch als die „gute alte Zeit“ verniedlicht wird.

Mit dieser Scheibe ins Hirsch-Gesamtwerk einzusteigen, ist sicher keine ausgefallene Wahl, weil sie nun einmal den Klassiker in seinem Schaffen darstellt. Aber man kauft sich bei Celtic Frost ja auch nicht als Erstanschaffung „Cold Lake“, nur um besonders originell dazustehen. Die CD gibt es wie den Nachfolger jeweils für wenig Geld, während beide zusammen auch in der „Liederbuch“-Reihe erschienen sind. Dort ist übrigens die LP-Variante zu bevorzugen, denn das schön gestaltete Doppel-Vinyl mit Texten enthält die kompletten beiden Longplayer (mit 20 Tracks), während es die „Liederbuch“-CD nur auf 13 Stücke mit einer Auswahl aus den beiden Alben bringt. Das wird Kapazitätsgründe gehabt haben und wäre mit einer zweiten Scheibe leicht zu beheben gewesen. Ist aber nicht weiter schlimm, das Vinyl macht sich ohnehin besser im Plattenschrank.

Video "I lieg am Ruckn" - geht nur extern

- Stefan - 11/2021


[07] GRAUZONE – Die Sunrise Tapes (1998)

Besonders lange existierte die 1980 gegründete Band GRAUZONE nicht: Aus dem Punk kommend, der auch in der Schweiz eine neue kreative Szene beförderte (nachzuhören unter anderem auf dem „Swiss Wave“-Sampler), war zwei Jahre später schon wieder Schluss. Produziert wurden gerade mal ein Longplayer und diverse Singles, auch Live-Auftritte gab es nur wenige. Dennoch haben GRAUZONE ihre Spuren hinterlassen: nicht nur wegen ihres Hits „Eisbär“ (den die Band gerade live gerne vermied), sondern auch durch die Mitwirkung von Stephan Eicher, der danach vor allem als Solo-Künstler von sich reden machte. Konzerte außerhalb der Schweiz fanden nicht statt, ein Auftritt in der Stuttgarter „Mausefalle“ (wo 1982 auch das Live-Album von TRIO entstand) wurde abgesagt.

Zu ihrem Namen inspirierte die Band (meines Wissens) der im Jahr 1979 veröffentlichte gleichnamige Film von Fredi Murer (international später vor allem durch sein meisterhaftes Drama „Höhenfeuer“ von 1985 bekannt). Der Protagonist des in tristem Schwarz-Weiß gehaltenen Films betätigt sich, verborgen hinter einer normalbürgerlich wirkenden Existenz, mit Abhöraktionen für einen Konzern. Während sich zeitgleich eine mysteriöse Epidemie ankündigt, nehmen sowohl persönliche Isolation wie auch gesellschaftliche Entfremdung zu, was als Anknüpfungspunkt für die Stimmung, die von GRAUZONEs Musik und Texten ausgeht, eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben dürfte.

Ende der Neunziger kam mit „Die Sunrise Tapes“ eine erste Compilation auf den Markt, zwölf Jahre gefolgt von einer zweiten Zusammenstellung mit zusätzlichen Stücken (die jedoch den Song „Schlachtet!“ vermissen lässt, auf der hier vorgestellten CD noch vertreten). Musikalisch bedienten GRAUZONE ein durchaus breiter gefasstes Spektrum, obwohl sie eigentlich einen minimalistischen Sound ohne besonderen Aufwand pflegten, bei dem trotz der Unterschiede die Stücke klar zuzuordnen sind. Was wiederum nahelegt, dass GRAUZONE ein sehr stabiles Zentrum gehabt haben müssen, das ihre Identität zusammenzuhalten schien.

Die CD beginnt mit zwei der bekanntesten Tracks, nämlich dem monoton hämmernden „Film 2“ (hierzu wurde ein Video gedreht und auch in einer Folge von „Ein Fall für zwei“ fand das Stück Verwendung) und natürlich dem unvermeidlichen „Eisbär“, den die meisten vermutlich als damaligen Charts-Hit kennen oder von einem der vielen NDW-Sampler. Dem stehen auch andere, nicht sofort eingängige Songs gegenüber, während „Wütendes Glas“ (dem frühen bis mittleren DAF-Sound recht nahe) auch die morsch gewordenen Tanzbeine älterer Herrschaften wieder zum Schwingen bringt. Schade nur, dass das brillante „Kunstgewerbe“ der beiden Eicher-Brüder mit knapp über einer Minute Spielzeit lediglich den Charakter eines Intermezzos besitzt, davon hätte man gerne noch mehr gehört. Auch in der Folge wechseln sich düstere Klänge mit eingängigen Songs ab, was sich in der Instrumentierung (mal gitarrenlastiger, mal mehr Synthies) niederschlägt.

Um den GRAUZONE-Kosmos kennenzulernen, ist die CD auf jeden Fall gut geeignet, wenn es nicht gleich das aktuelle Vinyl-Set „40 Years Anniversary“ (mit Studio-Album und Live-Scheibe) sein soll oder die vergriffene Doppel-CD „1980-1982“ (da wird es preislich jeweils schon etwas deftiger). Wer dann aber auf den Geschmack gekommen ist, der wird sich wohl zwangsläufig auch noch den kostspieligen Rest anschaffen müssen, wenn man auf Stücke wie „Tanz mit dem Tod“ oder „Film 1“ nicht verzichten möchte.


- Stefan - 11/2021



[08] RINGSGWANDL – Staffabruck (1993)

Wer die späten Achtziger als Musikhörer in Bayern verbracht hat, dürfte kaum an ihm vorbeigekommen sein: Georg Ringsgwandl, seinerzeit gerne mit dem Attribut „schrill“ belegt, brachte 1986 sein erstes Album heraus, auf dem sogar ein ausgefallenes Hendrix-Cover („Der Wind schreit Scheiße“) seinen Platz fand. Als Ringsgwandls Durchbruch habe ich damals den Nachfolger „Trulla! Trulla!“ von 1989 wahrgenommen, mit Songs wie „Wuide unterwegs“ und dem „Heavy Metal Landler“, die kunterbunt alles miteinander vereinten, seien es Reggae-Rhythmen, schrammelnde Rock-Gitarren oder bayerische Volksmusik.

Nach drei Alben bis 1992 folgte dann eine Zäsur mit der Akustik-CD „Staffabruck“, auf der vor allem Stücke aus den Siebzigern versammelt waren. Der Titel der Scheibe verweist auf Ringsgwandls Herkunft und Heimat, die Texte erzählen von nicht immer nur schönen Erlebnissen aus der Kindheit, von anderen dunklen Momenten und von merkwürdigen Figuren, die man gut nachvollziehen kann, wenn man selbst auf dem Land aufgewachsen ist. Der Einstieg mit „Kneißl“ (über den 1902 hingerichteten Räuber Mathias Kneißl) ist etwas schwierig, da der Text sich an den populären volkstümlichen Legenden orientiert, die schon zu Kneißls Lebzeiten kursierten und irgendwie doch etwas zu schönfärberisch daherkommen. 

Die übrigen Texte durchzieht ein überwiegend nachdenklicher Tonfall und auch musikalisch setzt Ringsgwandl von Ausnahmen („Auf der Straß“) abgesehen meist auf die ruhige Gangart. Damit ist „Staffabruck“ natürlich wie geschaffen für die Herbst- und Winterzeit, auch wenn es mit der Textverständlichkeit für Hörer nördlich von Bayern möglicherweise problematisch werden könnte. Nach fast 30 Jahren muss man konstatieren, dass sich das Album ziemlich gut gehalten hat und auch Ringsgwandl-Anhänger, die seinerzeit, unterstützt durch markante Liveauftritte, in erster Linie die wildere und rockigere Musik der vorhergehenden Alben kannten, den stilleren Weg von „Staffabruck“ offensichtlich mitgegangen waren.

Da der Musik alles Krachlederne abgeht und auch durch die Instrumentierung sich möglicherweise anbietende „Alpenrock“-Klischees vermieden werden konnten, hat „Staffabruck“ etwas von dem mitbekommen, was gerne als „zeitlos“ beschrieben wird. Da verweist im Grunde nichts weder musikalisch noch textlich in besonderer Weise auf die Entstehungszeit der meisten Lieder, die statt in den Siebzigern auch zwanzig Jahre später hätten geschrieben worden sein können (also in der Zeit, als sie schließlich aufgenommen wurden). Ringsgwandls Texte berühren hier existenzielle Themen und das wird wohl der Grund sein, weshalb das Album auch nach vielen Jahren unter seinen Anhängern noch einen besonderen Stellenwert hat.


- Stefan - 11/2021


[09] KLAUS SCHULZE – Cyborg (1973)

Die letzte Station unserer diesjährigen Herbstmusik-Strecke hat, so weit entfernt das musikalisch zunächst aussehen mag, auch etwas mit dem Black Metal der Achtziger und Neunziger aus Norwegen zu tun. Schenkt man den Mord-und-Totschlag-Anekdoten Glauben, so war „Cyborg“ jenes Album, das zuletzt auf dem Plattenteller des MAYHEM-Gitarristen Euronymous lag, als dieser in der Nacht des 10. August 1993 ermordet wurde. Das Elektronik-Faible des Musikers war durchaus bekannt: So hatte er in den Achtzigern den Kontakt zu Conrad Schnitzler gesucht, der dann ein Stück beisteuerte, das zum Intro des Mayhem-Mini-Albums „Deathcrush“ wurde. Beide, Schulze und Schnitzler (klingt fast wie ein Duo aus einem MAD-Comic), waren in der frühen Phase auch Mitglieder der später zu Weltruhm gelangenden Band TANGERINE DREAM, bevor sie eine Solokarriere einschlugen.

Wer das TD-Doppelalbum „Zeit“ kennt, der erhält auch eine Vorstellung davon, was ihn auf „Cyborg“ erwartet: Die Musik war hier noch nicht in jener Phase angelangt, in der treibende, vom Sequenzer angetriebene Rhythmen das Klangbild prägten, sondern raumgreifende „Flächen“ die Kompositionen bestimmten. Das mag zunächst in der Tat abschreckend wirken, denn für den Hörer, der anders strukturierte Stücke gewohnt ist, findet ein Kurs der radikalen Entschleunigung statt. Die einzelnen, sehr langen Tracks dauern 23 bis 25 Minuten und bestehen aus vorproduzierten Orgel- und Streicherklängen, die eine Symbiose mit den permanent umherflirrenden Synthie-Klängen eingehen, was eine ungewöhnliche, beinahe meditative Wirkung auslöst. Hat einen dieser Sound erst einmal für sich eingenommen, vermag man ganz in ihm aufzugehen.


Ebenso wie bei Tangerine Dream findet auch bei Klaus Schulze dieser Abschnitt des musikalischen Schaffens keinen ungeteilten Beifall. Der Kritikpunkt von zu großer Monotonie und Langatmigkeit ist ja nachvollziehbar, auch wenn ich eher den Versuch unternehmen würde, das Album aus seinem historischen Kontext zu verstehen, als ein Werk des Experimentierens und Findens. Auch KRAFTWERK klangen auf ihren ersten Alben ganz anders als in den ausgehenden Siebzigern, als sich Stil und Ausdruck etabliert hatten. Außerdem erweist sich „Cyborg“ als ausgezeichneter Soundtrack für nächtliche Listening Sessions, wenn draußen der erste frühwinterliche Schnee fällt und sich eine eigentümliche Stimmung einstellt. Ein Kritiker auf den babyblauen Seiten schrieb dazu: „…wie eine Kathedrale aus Eis … kristallklar und faszinierend.“

Das Album ist in zwei Covervarianten erhältlich, wobei die Foto-Ausgabe eindeutig die prägnantere ist: Schulze steht hier vor einem rot-schwarz gemusterten erleuchteten Hintergrund, Name und Albumtitel sind in Orange bzw. Gelb gehalten. Ein perfektes Artwork, das Klarheit und Mysterium gelungen miteinander vereint.


- Stefan - 12/2021