"Der Herbst ist die Zeit, da die Tage kürzer
und die Bremswege länger werden."
(Markus M. Ronner)
Italien ist nicht unbedingt eine Gegend, die musikhistorische Landvermesser auf der Weltkarte des Rock und Metal als eines der bedeutenden Zentren bezeichnen würden. Dafür rumorte es im Untergrund, der im Ausland aber mit enormen Vorbehalten zu kämpfen hatte - die Verrisse italienischer Bands in den Achtzigern in Magazinen wie dem Metal Hammer sprachen Bände. Im Progrock-Genre blühte in dem Land vor allem in den Siebzigern eine sehr aktive Szene, ebenso schwören Doom-Insider auf so manche Band aus Italien. Sänger und Gitarrist Paolo Catena, der seit ca. 35 Jahren unter diversen wechselnden Künstlernamen in Erscheinung tritt, stammt aus dem reichhaltigen Musikerfundus der von ihm mit ins Leben gerufenen Formation DEATH SS (keine Erwähnung dieser Band ist komplett ohne den Hinweis, dass "SS" für Sänger Steve Sylvester und nicht für rechtsaußen angesiedelte Nazi-Sympathisanten steht).
Paolo Catena, dessen bekanntestes Pseudonym "Paul Chain" praktischerweise die Übertragung seines Namens ins Englische ist, kann den Neueinsteiger durchaus verwirren, ihn beim Spontankauf zu einem Album greifen lassen, auf dem nicht der vermutete Doom ertönt, sondern eher Experimentelles. Aber auch der Sound, der am stärksten mit traditionellem Zeitlupen-Metal verbunden ist, hat seine Tücken: Pauls theatralischer Gesang zieht wie ein Magnet die Vokabel "gewöhnungsbedürftig" an, eingefleischte Doom-Jünger dürften damit aber klarkommen. Nach seinem Ausstieg bei DEATH SS führte Chain sein Schaffen mit dem wiederauflebenden PAUL CHAIN VIOLET THEATRE fort. In der zweiten Hälfte der Achtziger verkürzte sich das Ganze zum simplen PAUL CHAIN, weitere Erscheinungsformen unter neuen Namen und teilweise deutlich anderen musikalischen Vorzeichen sollten folgen - bis in die jüngere Vergangenheit.
"The language used by Paul Chain doesn't exist. It's purely phonetic" lautet eine kryptische Notiz im Booklet des Albums "Alkahest" - was ebenso aufklärt wie auch zusätzlich verwirrt, falls sich der geneigte Hörer fragen sollte, weshalb hier nur zu einem Teil der Songs (bei denen Lee Dorrian von CATHEDRAL als Gast mitwirkt) die Texte abgedruckt sind. In der Tat scheint Paul Chain zwar durchaus englische Textfragmente zu singen, die aber mehr wie ein zusätzliches Instrument eingesetzt werden, nicht als Lyrics im herkömmlichen Sinne. Musikalisch tönt "Alkahest" metallischer als die Chain-Alben der Achtziger, was am Gitarrensound und der hörbar volleren Produktion liegt. Für Neueinsteiger, die gerade erst im Chain-Kosmos andocken, wohl eine der zugänglicheren Platten und ein ausbaufähiger Brückenkopf für weitere Exkursionen.
Die erste Hälfte von "Alkahest" ist dominiert von schleppendem, klassischem Doom Metal. Hervorragende Songs wie "Sand Glass" oder "Three Water" sind bester Sound für die herbstliche Jahreszeit, Keyboard-Passagen und folkloristische Einsprengsel (Intro zu "Reality") sorgen für angenehme Abwechslung. Etwas kritischer wird's bei "Voyage to Hell", einem Song von der ersten EP des VIOLET THEATRE aus dem Jahr 1984, der in der neuen Bearbeitung mit Lee Dorrian stärker an den Metal heranrückt. Jedoch ist Dorrian (seine Anhänger mögen es mir verzeihen) stimmlich etwas zu limitiert und er drückt auch dem Stück seinen Stempel so deutlich auf, dass es am Ende mehr nach einer Coverversion mit seiner eigenen Band CATHEDRAL klingt. Der herrlich verschrobene Charme des Originals mit seinem verhallten Gesang und dem eigenwilligen Gitarrensound ist bei diesem durchaus ehrenwerten Versuch dann leider doch auf der Strecke geblieben.
Auf der verbleibenden Strecke funktioniert das Duo Chain/Dorrian hörbar besser, etwa bei "Lake without Water" (Parallelen zu instrumentalen, keyboarddominierten COUNT RAVEN-Tracks sind nicht von der Hand zu weisen). Das abschließende "Sepulchral Life" fährt vom Midtempo bis zur Doom-Zeitlupe alles auf, um dem Album einen würdevollen Bühnenabgang zu verschaffen - Wiederaufführungen willkommen! Lee Dorrian war offensichtlich stolz wie Bolle, bei einem Werk von Paul Chain mitwirken zu dürfen und so zieren denn auch zahlreiche Erinnerungsfotos der beiden das Booklet der edel aufgemachten CD.
Bis in die späten Siebziger reicht das Material von "In the Darkness" (aufgenommen 1986) zurück, ein frühes Album mit Pauls gewohnt extravagantem Gesang, verspieltem Doom Rock und Sounds, die entfernt an Italo-Bands wie Jacula erinnern (Track 3 "War"). Während "Alkahest" durch seinen metal-lastigen Sound eine gewisse formale Strenge aufweist, ist "In the Darkness" exzentrischer und psychedelischer, was auf der B-Seite bei den nicht von Paul gesungenen Stücken ein wenig Toleranz erfordert. Mit den vom Meister selbst dargebotenen Tracks "Welcome to my Hell", "Crazy" und dem abschließenden Titelsong ist jedoch genügend guter Stoff vorzufinden, der sich zum weiteren Kennenlernen des Chainschen Schaffens eignet.
Da die Alben meist nicht ganz einfach zu bekommen sind, empfiehlt sich als Bezugsquelle am besten Ebay. Dort vertreibt ein italienisches Label immer wieder neu aufgelegte CDs in liebevoll gestalteten Editionen (die Preise sind akzeptabel, mit Versandkosten liegen sie etwa bei 17 Euro). Das Angebot bei Amazon ist größer, aber vor allem bei neuwertigen Exemplaren häufig unverschämt teuer. Vor Blindkäufen wäre anzuraten, den Youtube-Channel seines Vertrauens zu konsultieren, um mit Hörproben herauszufinden, wohin bei einer bestimmten Scheibe die Reise geht. Immerhin produziert der Maestro keine eingängige Allerweltsmusik, sondern Klänge für geladene und daher entsprechend vorbereitete Gäste, die den merkwürdigen und faszinierenden Reiz seines Werks zu schätzen wissen. Oder wie es unser US-Fanzinekollege Ray Dorsey einst im Interview mit Martin formulierte: "Am meisten bin ich stolz darauf, meinen Namen auf den Thanks-Lists von zwei PAUL CHAIN CDs lesen zu können, auf "In Concert" und "Alkahest". PAUL CHAIN ist der von mir am meisten bewunderte und vollendetste Künstler, den ich kennengelernt habe ..."
Paul Chain und seine Bands
Stefan 10/2013
In den Jahren 1990 und 1991 führten ein Film und eine Serie eine neue Form des Erzählens in die Mainstream-Unterhaltung ein: Jonathan Demmes Thriller DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER räumte mit fünf Trophäen bei der Oscar-Verleihung mächtig ab und machte zudem das Thema des Serienkillers auch für größere Hollywood-Produktionen interessant. Was das Fernsehen und den Boom von Mystery-Serien betrifft, legte neben AKTE X (produziert ab 1993) vor allem TWIN PEAKS von David Lynch und Mark Frost den Grundstein für ein Kult-Phänomen, das bis heute seine Anhänger findet. Andere Serien mögen seither größere Erfolge feiern, doch das stilprägende Türöffnen zu einer neuen TV-Welt bleibt das Verdienst von TWIN PEAKS.
Eine Menge ist seither über den Mikrokosmos dieser Serie geschrieben worden, sowohl Sekundärliteratur wie auch Ableger aus ihren Figuren und Geschichten in Gestalt der pseudo-dokumentarischen "Tagebücher" von FBI-Agent Dale Cooper und Laura Palmer - jener Schülerin, deren Ermordung der mit skurrilem Scharfsinn und ungewöhnlicher Beobachtungsgabe arbeitende Agent Cooper aufklären soll. Ein bis heute sehr populärer Baustein der Serie ist auch die Musik von Angelo Badalamenti, der David Lynch schon vor TWIN PEAKS kannte - die beiden hatten bereits bei BLUE VELVET und WILD AT HEART zusammengearbeitet.
Es gibt Filmmusiken, bei denen schon die ersten Klänge genügen, den Hörer in ihren Bann zu ziehen. Die Bass-Töne, die das "Twin Peaks Theme" einleiten, zählen zu diesen magischen Momenten. Sie legen Tonfall und Stimmung der Serie fest, welche sie danach auch nicht mehr verlieren sollte: Eine Mischung aus sanften, berührenden Klängen, die nicht wenige sogar als eine Art therapeutischer Musik empfinden, immer untermalt jedoch von einer Aura des Mysteriösen und latent Bedrohlichen. Auch im "Laura Palmer's Theme" ist diese Dualität förmlich fühlbar, wenn der dunkle Klangteppich in eine romantische Melodie überwechselt, die allerdings nie zu einer aufdringlich-süßlichen Kitschbombe mutiert.
Badalamentis Score pendelt aber nicht nur zwischen diesen beiden emotionalen Zuständen. Er serviert auch cool-verschrobenen Jazz, der für eine Figur wie Dale Cooper und die surreal anmutenden Ereignisse in der Gegend um Twin Peaks schlichtweg wie maßgeschneidert erscheint. Zum Dahinschmelzen sind die drei von Julee Cruise gesungenen Stücke, allen voran "The Nightingale", das bei Tageslicht besehen durchaus einiges an "Schmalz" in sich trägt, wäre da nicht diese ganz besondere Atmosphäre von Badalamentis Komposition, die dem Anspruch von David Lynch gerecht wird und ihren düsteren Mystery-Touch auch hier nicht verliert. Cruise, die in der Serie und im danach gedrehten Kinofilm-Prequel TWIN PEAKS: FIRE WALK WITH ME als Sängerin auch vor der Kamera zu sehen war, interpretiert zum Abschluss dieses Soundtracks das einleitende Titelthema selbst noch einmal - nun unter dem Titel "Falling" und nicht mehr nur rein instrumental.
Was soll man über dieses Album noch weiter schreiben? Es ist stellenweise Herbstmusik in Vollendung, mit einer inhaltlichen Bandbreite, welche die CD interessanter und abwechslungsreicher macht als etwa den Score des eingangs erwähnten DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER, auf den, auch wenn es eine abgedroschene Phrase ist, das Klischee vom "It works in the film" zutrifft (d.h. die Musik von Howard Shore ist zwar gut, aber solo auf CD über die volle Distanz etwas monoton und funktioniert besser als reine Filmbegleitung). Die CD-Auskopplung zu TWIN PEAKS dagegen dürfte zu den beliebtesten Filmmusiken zählen, wobei gut möglich ist, dass sich manch einer zwar die CD gekauft, die Serie selbst aber kaum gesehen hat. Im Booklet sind 40 Charaktere der Show mit ihren Darsteller- und Rollennamen abgebildet - nur bei Nummer 40 sehen wir lediglich ein Diktiergerät und den Vornamen "Diane". Dahinter verbirgt sich Dale Coopers Sekretärin, die wir nie zu Gesicht bekamen (falls ich mich recht erinnere), die aber dem Anschein nach mehr als nur ein Phantom ist ...
Umfangreiche deutsche Fanseite zur Serie: http://www.laura-palmer.net
- Stefan - 10/2013
TWIN PEAKS revisited
Schon letztes Jahr hatte ich überlegt, wie man eine
Besprechung des TWIN PEAKS-Soundtracks am besten verfassen könnte.
Antwort: So wie oben.
Wie Stefan erwähnt, fängt der
Soundtrack wesentliche Elemente der Serie ein: den an Doughnuts, einem
"verdammt guten Kaffee" und der heimischen Flora ("Was sind das nur
für Bäume, Sheriff?", "Douglastannen", "Douglastannen!") interessierten
Chefermittler mit einem Faible für fernöstliche Religionen, die
scheinbar kleinstädtische Idylle mit ihren skurrilen Bewohnern und den
bis ins Mythologische reichenden Wahnsinn der unter ihrer Oberfläche
bzw. in ihren Wäldern haust.
In Hinblick auf die dunkle Seite von Twin Peaks muss besonders BOB
erwähnt werden, ein älterer Mann mit langen grauen Haaren, der meist
eine Jeansweste trägt - eine der unheimlichsten Gestalten der
Filmgeschichte, die allein durch ihren Blick in die Kamera Furcht
einflößt und sich von Schmerz und Furcht der Menschen ernährt. Beim
Sehen der Serie ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich vorsichtig
zur Couch blicke, hinter der er, wie aus dem Nichts erschienen,
hervorstarren könnte.
AKTE X weist zudem zwei personelle Verknüpfungen zu TWIN PEAKS auf.
David Duchovny taucht in TWIN PEAKS als Agent/Agentin Dennis/Denise
Bryson der Drogenbekämpfungsbehörde auf und hat eine Vorliebe für das
Tragen von Frauenkleidern. Don Davis spielt Major Garland Briggs, den
Vater von Bobby Briggs und ist in ein geheimes Regierungsprojekt
verwickelt. In AKTE X, der Serie, die ohne geheime Regierungsprojekte
nicht über den Pilotfilm hinaus gekommen wäre, ist er der Vater von
Dana Scully.
Im Gegensatz zu Stefan bin ich Anhänger der Meinung,
dass "Diane" wirklich nur Coopers Diktiergerät ist. In "FBI-Agent Dale
B. Cooper - Mein Leben, meine Aufzeichnungen" (was für ein Buchtitel!)
erfahren wir nämlich, dass Cooper schon im Alter von 13 Jahren begonnen
hatte, seine Erlebnisse auf Tonband festzuhalten - "Ich bin zur
Zeit 1,60 Meter groß, habe dunkles Haar und kann 1,37 Meter
hochspringen".
Wobei: Im Kosmos von TWIN PEAKS wäre das eine Schlussfolgerung, die zu
einfach erscheint.
Ich habe heute beschlossen, den Herbst 2013 mit den drei DVD-Boxen von TWIN PEAKS zu verbringen - Fire, Walk With Me!
- Martin - 10/2013
Das Weihnachtskind Volker Kriegel weilt leider schon etwas mehr als ein Jahrzehnt nicht mehr unter uns - er starb mit nicht einmal 60 Jahren. Sein Werk erstreckte sich über verschiedene Disziplinen: Am bekanntesten dürfte der Jazzmusiker Kriegel sein, aber in späteren Jahren machte er sich auch einen Namen als Autor, Illustrator und Übersetzer. Die Liste seiner künstlerischen Projekte mit namhaften Kollegen ist lang, sodass hier ein Verweis auf das legendäre DAVE PIKE SET genügen soll. Kriegel arbeitete auch mit Roger Willemsen zusammen, der später (so war einem Interview zu entnehmen) seine Schuhe auftragen durfte.
Mit Jazz als Herbstmusik ist das so eine Sache: Um die jahreszeitlich passende Stimmung zu unterstützen, wäre ein hektisches Free-Jazz-Dissonanzinferno wohl kaum geeignet - eine besondere Sorgfalt bei der Auswahl des geeigneten Tonträgers ist vonnöten. Die Mitte der Siebziger entstandenen "Octember Variations", eingespielt mit Kollegen wie Ack van Rooyen (Trompete), Wolfgang Dauner (Synthesizer) und Nippy Noya (Percussion) bieten sich mit ihrem fast durchgehend entspannten Sound sehr gut dafür an.
Ein wenig flotter sind der Opener "Funk you very much" und der Rausschmeißer "Spiral Crackers" (etwas unruhiger als der Rest der Scheibe) geraten, die auch jenen Zuhörern munden werden, denen die CD eventuell zu ruhig ausgefallen ist. Wer es lieber ganz relaxt mag, der beauftragt seinen CD-Player mit der Wiedergabe von Track 2 bis 6 und ist mittendrin im Wohlfühl-Reservat. Behutsam fließen die ruhig arrangierten Songs dahin, die Hektik des Alltags perlt wunderbar daran ab.
Volker Kriegel drängt sich (was angenehm auffällt) als Gitarrist und Bandleader nicht in den Vordergrund: Er nimmt sich bei Tracks wie "Und schön ist die Fahrt" und "Dora" zwar seinen Freiraum für eine Solopassage oder gibt die musikalische Führung vor, widersteht aber der Versuchung, als Chef seines "Mild Maniac Orchestra" dem geneigten Zuhörer so lange mit ausgedehnter Permanenz ins Ohr zu solieren, bis wirklich jeder begriffen hat, wer der Mann ist, der hier so gut Gitarre spielen kann. Den warmen, gefühlvollen Kriegel-Klang erkennt man ohnehin, da ist ausgelebtes Geltungsbedürfnis gar nicht notwendig.
Wie es aussieht, ist das Album in CD-Form aktuell vergriffen, d.h.
den Angeboten im Amazon-Marketplace brennen in Erwartung
kaufinteressierter Sammler mal wieder die Sicherungen durch. Für den
kleinen Hunger zwischendurch tut's daher auch ein Snickers sowie der
mp3-Download, der für einen sehr viel geringeren Kurs zu haben ist.
Sehr empfehlenswert tönen übrigens auch die Anfang September
veröffentlichten "Lost Tapes" aus den Sechzigern, auf denen unter
anderem einige Tracks versammelt sind, welche Freunde des DAVE PIKE SET
von dessen späteren Alben bei MPS kennen. Auch hier ist das Gros des
Materials angenehm laid-back und mit "Les feuilles mortes (Autumn
Leaves)" fand der Herbst sogar Eingang in einen Songtitel.
Das Album
als mp3-Download bei amazon
Eine Volker Kriegel gewidmete Website
- Stefan - 10/2013
Justin K. Broadrick begegnete uns bereits 2012 in der Herbstmusik, damals mit seinem JESU-Debüt. Diesmal ist es wieder ein Erstlingswerk, wenn auch nicht die tatsächlich erste GODFLESH-Veröffentlichung, denn vor dem Longplayer "Streetcleaner" erschien bereits 1988 noch eine selbstbetitelte Mini-LP (welche spätestens mit den Reissue-Bonustracks laufzeittechnisch eigentlich auch als LP durchs Ziel geht). Offiziell ist der Straßenfeger das Debüt in der GODFLESH-Discographie, sofern man den Fokus auf die Alben ausrichtet. Es wurde in mehreren Sessions aufgenommen, die ursprünglich nicht das Ziel hatten, einen vollständigen Longplayer zu erarbeiten - was man der im November 1989 erschienenen Scheibe auch anmerkt.
GODFLESH zelebrieren auf "Streetcleaner" im Eröffnungsquartett einen Sound, der mit mächtigen Gitarren und dem allgegenwärtigen Drumcomputer in eine Landschaft aus Metall entführt, als befänden wir uns in einem leerstehenden, vom Zahn der Zeit angegriffenen Stahlwerk, mitten im nasskalt verregneten Herbst, umgeben von Betonrelikten und verrostetem Eisen. Mal errichten GODFLESH wie in "Christbait Rising" eine wuchtige Gitarrenwand, dann erwecken sie mit unerbittlicher Monotonie die industriellen Arbeitsprozesse in der imaginären Fabrik wieder zum Leben (Track 3: "Pulp").
Nach dieser kraftvollen Einleitung wandert das Album weiter zu einigen Stücken, in denen weniger mit Härte als mit von Dissonanzen durchsetzten Klangstrukturen gearbeitet wird. Das wirkt anstrengender als in den ersten vier Songs und mag den Eindruck aufkommen lassen, dass Broadrick & Co. nach einem starken Auftakt recht schnell die Puste ausgegangen ist. Aber das wäre zu früh spekuliert, denn mit dem erstklassigen Titeltrack ziehen GODFLESH die Zügel wieder merklich an: Rhythmisch hämmert das Stück seinen Klassikerstatus ins Gehirn des Hörers, eingeleitet von einem Sample, das den Serienkiller Henry Lee Lucas zitiert.
Mit dem letzten Track "Locust Furnace" endete seinerzeit die LP-Version, auf CD kamen dann noch vier weitere Stücke hinzu, die in einer eigenen Studioaufnahme entstanden (Unterschiede in Sound und Produktion lassen das ohnehin leicht erkennen). Mit deutlich rauher klingenden Gitarren rocken sich Broadrick (git/voc) und seine Mitstreiter durch die eher unkomplex arrangierten Rausschmeißer, als wollten sie wie bei einem Live-Gig gegen Ende für eine knappe Viertelstunde dem Publikum noch einmal ordentlich einheizen, bevor es erschöpft, aber zufrieden in eine kühl-feuchte Nacht nach Hause entlassen wird.
Seit 2010 gibt es allerdings noch eine Zugabe und zwar in Form einer Doppel-CD, bei der auf Disc 2 ganze zwölf weitere Songs kredenzt werden. Allesamt von CD 1 bekannt, aber hier in bis dato unveröffentlichten Versionen vorzufinden, teilweise auch als Live-Fassungen (Genf 1990) oder mit rumpeligem Rehearsal/Demo-Charme, wobei dieses Material bis 1988 zurückreicht. Hier werden wohl mehr die Sammler und Chronisten ihre Fühler ausstrecken, für den Einsteiger genügt eigentlich auch die frühere "Streetcleaner"-Ausgabe ohne den Bonus. Besonders teuer ist aber auch der Doppeldecker nicht, wenn man ein wenig danach fahndet. Bei Ebay etwa sollten einige Angebote zum Preis einer Einzel-CD anzutreffen sein.
Beinahe 25 Jahre später hat "Streetcleaner" immer noch so seine kleinen Schwächen, über die volle Distanz betrachtet, aber auch eine beeindruckende Intensität, die zumindest mich immer staunen ließ, wenn man bedenkt, dass Mastermind Broadrick zum Zeitpunkt des Entstehens erst ganze 20 Jahre alt war. In diesem Alter begann ich gerade meinen Zivildienst und wusste lediglich, was ich danach studieren wollte. Zum gleichen Zeitpunkt drückte mir mein Vorgänger in der Zivi-Stelle (nennen wir ihn der Einfachheit halber mal Martin W.) ein Fanzine namens "Nonkonform" in die Hand, in dem ich in Ausgabe 2 oder 3 netterweise auf das Übelste diffamiert wurde. ;-) Ausschließlicher Lärm-Konsument war ich seinerzeit nun eigentlich nicht und ich kann mich auch nicht daran erinnern, Martin allen Ernstes irgendetwas von CANNIBAL CORPSE ausgeliehen zu haben - die mochte ich ja selber nicht besonders. GODFLESH bekam er aber sehr wohl und die haben ihm sogar recht gut gefallen. Trotz mancher Härte gibt es bei ihnen noch etwas anderes: Emotion, Tiefgang und eine Musik, die nicht (O-Ton Martin) dem "musikalischen Äquivalent einer Hochhaussprengung entspricht".
LINKS:
Umfangreiche
GODFLESH-Fanseite
GODLESH
im Earache-Ebay-Store
- Stefan - 11/2013
"Früher war mehr Lametta" meinen einige Opa Hoppenstedts unter den Fans und meinen, dass die Mannschaft um Frontfrau Jessica Bowen auf älteren Tonträgern noch einen höheren RD-Faktor hatte (das Kürzel RD steht für "Rumpel-Doom"). Glattgebügelt und um ihren Biss beraubt ist die Band aber deshalb nicht, wie das im Sommer dieses Jahres veröffentlichte Album "Blood Moon Rise" beweist. Nach einigen intensiven Durchläufen steht fest: Zwar kein Meisterwerk, aber eine hervorragende Platte, die genau den richtigen Ton zwischen feierlichem Doom und psychedelisch-balladesken Songs trifft - gekrönt von Jessicas fantastischer Stimme.
Nun ist seit geraumer Zeit das Subgenre des Okkult/Retro/Siebziger-Sounds mächtig angesagt im hart rockenden Untergrund, sehr gerne auch mit Sängerinnen am Mikro: THE DEVIL'S BLOOD, BLOOD CEREMONY, CHRISTIAN MISTRESS, SPACEGOAT, ALUNAH, JESS AND THE ANCIENT ONES, ACID KING (anders als etliche Kollegen schon seit 20 Jahren im Geschäft), CASTLE (hier schwingt Sängerin Elizabeth Blackwell in Personalunion auch den Bass) oder FUZZ MANTA - um nur ein paar zu nennen ... Merke: Immer genügend obskure Bands, und seien sie nur aus der Youtube-Vorschlagsliste abgeschrieben, in einer solchen Aufzählung unterbringen, um damit Fachwissen und "Street Credibility" vorzutäuschen ;-)
Der erste Knaller der Scheibe ist "The places you walk", für die Geschwindigkeitsverhältnisse auf dem Album ein recht flotter Midtempo-Track, gefolgt vom schon deutlich langsamer aufgebauten "The Divide", dessen Doom-Schlagseite unüberhörbar ist und zu der die Platte später auch wieder zurückfindet. Im ruhigen Mittelteil haben aber erst einmal die balladesken Stücke das Sagen, das stärkste davon "Keep your Weeds", in dem man mitunter versinken könnte. Höhepunkt von "Blood Moon Rise" ist allerdings das achtminütige "Ehjä", ein schleppendes Doom-Epos der gehobenen Güteklasse, bei dem ich mich frage, warum eigentlich (Achtung, Blasphemie-Alarm) um die aktuelle Black-Sabbath-Reunions-CD ein derartiger Aufwand veranstaltet wird, wenn andererseits solche Songs und andere Zeitlupen-Kracher wie das nachfolgende "The Four of us are dying" einen besseren Eindruck hinterlassen als das neue Material von Ozzy und seinen Kumpels.
Das abschließende "Psyar" (längster Song des Albums) wendet sich wieder mehr dem ruhigeren Psychedelic Rock zu und könnte etwas zwingender sein, trübt aber den fast durchgehend exzellenten Gesamteindruck der Scheibe nicht. Wenn der Herbstwind die Blätter vor sich hertreibt und die Nächte zusehends kühler werden, kommt ein passender Soundtrack dazu wie gerufen (momentan liegt zwar gerade schon der erste spärliche Schnee draußen, aber das ignorieren wir einfach mal). JEX THOTH schneiden dabei vor allem dank ihrer Frontfrau überzeugender ab als so mancher Mitbewerber. Gemessen an jenem, was sie bisher geleistet haben, darf man zukünftigen musikalischen Großtaten beruhigt entgegensehen!
Eigentlich wäre ja ein Album wie "Forever Autumn" (1999) schon vom Titel her geradezu prädestiniert für unsere Herbst-Rubrik, doch musikalisch ist der zwei Jahre früher entstandene Vorgänger einfach besser. Die Schweden LAKE OF TEARS stilistisch einzuordnen, ist nicht ganz so einfach, wie es zunächst scheint: Gothic Metal als Oberbegriff scheint zu passen, aber auch Doom und Siebziger-Rock machen sich bei den Einflüssen bemerkbar. Immer wieder kursierte auch "Hippie Metal" als Stilbeschreibung, wobei ich mich frage, ob das wirklich nur positiv oder nicht mitunter doch auch ein bisschen spöttisch gemeint war.
LAKE OF TEARS sind auf "A Crimson Cosmos" keine in Melancholie, Weltschmerz oder gar suizidaler Endzeit-Stimmung ertrinkende Band, die uns einen hoffnungslosen Monolithen in Moll vorsetzt. Ein Song wie "Devil's Diner" (zu dem ein reichlich seltsames Video gedreht wurde) passt mit seinem schwungvollen Groove in den sonnig-milden Herbst, der die nahende Winter-Depression noch einmal mit einigen Sonnenstrahlen vertreibt. Sehr gelungen sind das schleppende "When my Sun comes down" und das Instrumental "To die is to wake", denen mit dem Abschluss-Trio eine durch ihre stilistische Vielfalt überzeugende Strecke folgt, auf der die ganze Bandbreite der Schweden noch einmal ausgiebig zum Tragen kommt.
"Lady Rosenred" (größtenteils von einer Frau gesungen), danach "Raistlin and the Rose" (ein typischer Gothic-Metal-"Stampfer" für nächtliche Autofahrten) und der entspannt dahinfließende Titeltrack klingen, wenn man sich die Leadstimme mal wegzudenken versucht, auf Anhieb nicht so, als würden sie von der gleichen Band stammen. LAKE OF TEARS bekamen früher in CD-Reviews nicht selten den kleinen Seitenhieb verpasst, dass sie keine Meister an ihren Instrumenten seien, was eine durchaus eigenwillige Art war, an sich positive Besprechungen damit einzuleiten. Eigentlich spielt es doch gar keine Rolle, ob irgendetwas mit besonderer formaler Virtuosität gespielt wird - Hauptsache ist, dass den Hörer berührt und ihm etwas gibt.
" A Crimson Cosmos" geht unkompliziert und angenehm ins Ohr, ohne dabei aber banal zu werden. Eine Platte, die nicht schmerzhaft oder kontrovers ist, sondern schlicht und ergreifend irgendwie "schön" - das darf ja auch mal sein. LAKE OF TEARS wurden 2003 nach einer längeren Schaffenspause wieder aktiv und veröffentlichten seither drei weitere Studioalben, das letzte davon ("Illwill") vor zwei Jahren.
- Stefan - 11/2013
Vor 20 Jahren im Herbst kam das
vierte Album von PARADISE LOST in die Läden und ich hatte sie mir
sofort vom letzten Zivildienst-Sold gekauft (womit der Anschluss zur
Nummer 4 weiter oben hergestellt wäre).
Die Kassetten-Kopie begleitete mich zum Studium in die große fremde
Stadt und lieferte den Soundtrack zu nächtlichen Irrfahrten mit dem
Auto von irgendwelchen Studentenparties zurück in die gefühlt 10
Quadratmeter des eigenen Wohnheimzimmers.
Der CD-Bonus Track von "Shades Of God" bzw. die EP"As I Die" (welche
mit "Death Walks Behind You" von ATOMIC ROOSTER einer verstecke Perle
beinhaltet) hatten es angekündigt - mit "Icon" waren PARADISE LOST beim
puren Gothic Metal, als dessen "Erfinder" sie oft genannt werden,
angelangt, nachdem die drei Vorgänger vor allem durch den Gesang von
Nick Holmes noch im Death-Metal wurzelten. Gregor Mackintosh und Aaron
Aedy, die beiden Gitarristen, sorgten für die dazu notwendigen
Harmonien und die Balance zwischen Melancholie, Gitarren-Brett, Bombast
und zum Weinen schönen Melodien, bei "Christendom" wurde wieder eine
weibliche Hintergrundsängerin mit Opernstimme eingesetzt, was nicht
wenige Bands inspirierte. Nick Holmes wurde der bessere James Hetfield
und außerdem der bessere Jesus-Darsteller.
Es war einfach großartig - die Platte wurde Spitzenreiter der
Albumcharts des Monats Oktober 1993 im Rockhard und in eine Reihe mit
"Reign in Blood" und "Ride The Lightning" gestellt. Schwierig, da
Anspieltipps zu geben, trotz der "Hits" "Embers Fire" und "True Belief"
sollte man sich das Album am Stück anhören. Was selbst mit Kopfhörer
stressfrei möglich ist, denn - und damit komme ich zu einem von Heikos
Steckenpferden - 1993 hatte der Loudness-War noch keine
stalingradartigen Ausmaße angenommen. Schlagzeug, Gitarre und Gesang
gehen nicht Soundbrei zugunsten von "Druck" unter. Mit den folgenden
Alben sollte sich das schrittweise ändern. "Draconian Times" führte
knapp zwei Jahre den eingeschlagenen Weg fort und kann uneingeschränkt
empfohlen werden.
Was danach kam… nun, eine gewisse Affinitität zu DEPECHE MODE mochte
da mancher heraushören… und nicht nur das Bienen-Cover von "Believe In
Nothing" (1999), man mag den Titel als Kontrapunkt zu "True Belief"
sehen, zeugte von einer gewissen Einfallslosigkeit.
Viele Jahre waren mit PARADISE LOST darum ziemlich egal, erst mit der
Suche nach passenden Alben für diese Rubrik zog ich sie wieder aus dem
Regal und forschte nach, was die Helden von damals heute so treiben.
Tatsächlich hatten sie sich mit ihren letzten beiden Alben "Faith
Divides Us - Death United Us" (2009) und "Tragic Idol" (2012) auf ihre
besten Zeiten besonnen, auch wenn sie mich nicht mehr so berühren wie
"Icon", doch das mag hauptsächlich biographische Ursachen haben. Männer
in den 40ern, die sich nach ihren jungen Jahren zurücksehen? Nein, eher
der Beweis, dass die Postadoleszenz allerspätestens mit 50 Jahren zu
Ende ist.
- Martin - 12/2013
Beinahe 20 Jahre ist es alt, das letzte Album der New Yorker CODEINE, die 2012 retrospektiv in einem Boxset ihr altes Material wiederveröffentlichten und begleitend einige Reunionskonzerte spielten, danach das Kapitel CODEINE aber endgültig abschlossen. Zwei Longplayer und etliche Singles umfasst das Werk der Gruppe, die als frühe wegweisende Vertreter von Post-Rock und Slowcore gelten. Die langsamen und bedrückenden Klänge finden ihre visuelle Entsprechung im Albumcover, das eine Birke im Winter zeigt. Der passende Aufhänger also, um unsere diesjährige Herbstrubrik hiermit würdig zu Ende zu bringen.
CODEINE zelebrieren sehr traurig wirkende Musik mit monotonen Songstrukturen, sparsamer Instrumentierung und melodiösem Sprechgesang. Auf den ersten oder zweiten Durchgang mag einem das noch ziemlich langatmig und ereignisarm erscheinen, aber mit zunehmender Dauer entfaltet "The White Birch" dann seinen Reiz. Sicher ist der Wechsel zwischen leisen Passagen und einigen krachigeren Gitarrenausbrüchen nicht das originellste aller Stilmittel, aber es wird auch nicht zu sehr überstrapaziert.
"The White Birch" ist stimmungsabhängig entweder der totale Langweiler oder ein gehaltvoller Begleiter in die ruhige Jahreszeit (bzw. in die Winterdepression, falls der Hörer dafür anfällig ist). Das Album kann auch als Therapeutikum dienen, als Zeitlupen-Untermalung für den gepflegten Weltschmerz. Die musikalische Monotonie hilft dabei, eine Atmosphäre zu erschaffen, die mehr ist als nur ein Dahindämmern in deprimierenden Klängen. Im Gegensatz zur totalen Zerstörung wie bei den Soundlandschaften des GRIEF-Albums "Come to Grief" ist "The White Birch" nicht von völlig hoffnungsloser Desillusionierung durchdrungen.
Nach 43 Minuten sind sowohl "The White Birch" wie auch der Herbst im
ZWWN zu Ende (kalendarisch haben wir ihn diesmal recht weit
ausgedehnt). Von meiner ursprünglichen Liste sind gerade einmal vier
Alben bzw. Bands dann auch in der tatsächlichen Endauswahl gelandet.
Einziger echter Fixpunkt waren CODEINE, die ihn diversen Netzreviews
auch als perfekte Wintermusik gehandelt werden und daher ganz
folgerichtig nur am Ende unserer diesjährigen Herbstwochen stehen
konnten.
Mehr Infos zu CODEINE bei Sub Pop
- Stefan - 12/2013
Nun nehme ich mir doch das Recht desjenigen, der das alles auf den
Server stellt, heraus, einen kleinen Nachtrag anzufügen ;-).
Die Studioalben dieser Art déco-Muse tendieren leicht zu
Blockbuster-Bombast; ihre Stimme ist überirdisch, was in solchen
Akustik-Sessions sehr gut zum Ausdruck kommt. Und wegen des leicht
morbiden Inhalts habe ich diesen Song für den Abschluss unserer kleinen
Rubrik ausgewählt.
- Martin - 12/2013