WAS MACHT EIGENTLICH… Matthias Herr?

Matthias Herr und Chuck Schuldiner von DEATH, Berlin, Oktober 1991
Matthias Herr und Chuck Schuldiner von DEATH, Berlin, Oktober 1991
https://youtu.be/u3DdQ0bb-rg

Wer sich in den 80ern bis in die späten 90er-Jahre über Heavy Metal informieren wollte, musste zum ROCK HARD (alles andere aus dem kommerziellen Print-Sektor zu diesem Thema konnte man eigentlich vergessen) greifen oder sich in den sehr lebhaften Fanzine-Untergrund begeben. In den üblichen Rock-Lexika fand man allenfalls AC/DC oder KISS, vielleicht noch einen Eintrag zu IRON MAIDEN und JUDAS PRIEST oder später zu METALLICA, oft geschrieben mit dem Unterton, dass dies ja keine richtige Rock-Musik sei, sondern nur laut und ordinär. CANDLEMASS, FATES WARNING oder OVERKILL suchte man hier natürlich vergeblich.

Im Juni/Juli 1989 veröffentlichte Matthias Herr aus Berlin-Kreuzberg den ersten Band seines „Heavy Metal Lexikons“ im Eigenverlag. Schwarzweiß-Fotos, Schreibmaschinen-Typographie und Fachkompetenz gepaart mit furchtloser Subjektivität waren Kennzeichen dieses Werks, das zu dieser Zeit im deutschen Sprachraum einzigartig war. Im September 1990, in Berlin war die Mauer gefallen, legte Matthias Band 2 in etwas professionellerem Layout nach , der auch eine Musikhistorie, Begriffserklärungen und Fanzine-Vorstellungen (u. a. das GIANT’S LORE und das MORTAL SIN) enthielt. Die Bücher verkauften sich gut und ein Jahr später folgte Band 3, im Anhang eine „Bunte Liste des Heavy Metal“, ein Szene-Überblick und ein Artikel über das ROCK HARD, welcher in den folgenden Jahren das gespannte Verhältnis zwischen Matthias und der Redaktion des RH bestimmen sollte. Bis zum vierten Band (mit einer lobenden Erwähnung des NONKONFORM im Fanzine-Teil!) sollte etwas längere Zeit vergehen, er kam im April 1994 in die Läden und Mailorders, jedoch hatte Matthias dazwischen den ersten Band komplett überarbeitet und im März 1993 veröffentlicht. Zwanzig Jahre sind es bald her, dass der fünfte und letzte Band der Reihe erschien. Im Oktober 1996 war das, und er hatte, wie die Vorgänger, etwa 200 Seiten Umfang.

Matthias Herr hatte sich in seinen Lexika nicht nur auf Heavy Metal (mit seinen damals noch etwa übersichtlicheren Subgenres) beschränkt, sondern stellte auch relevante Bands des klassischen Rock, aus Punk und Hardcore vor und erweiterte damit das musikalische Spektrum vieler Fans. Es gab in seinen Lexika Bands, deren Werke Matthias gleich neben die vier Evangelien stellte – DEATH gehörten dazu – gleichermaßen räumte er Künstlern oder –  aus seiner Sicht – „Künstlern“, die er partout nicht leiden konnte wie WARLOCK/DORO, die gleiche Seitenzahl ein, um dort genüsslich sein Missfallen auszudrücken („Sie wird dieses Kapitel gut überstehen und überleben, da bin ich sicher“).
Dass Matthias Herr Mitte der 90er Jahre die Radio-Sendung „Tendenz Hard bis Heavy“ bei MDR Sputnik in Nachfolge von Matthias Hopke moderierte, ist nicht endgültig belegt.
Update Februar 2024: Unser Leser Johannes hat uns Aufnahmen von Moderationen von Matthias bei „Tendenz Hard bis Heavy“ aus dem Sommer 1996 geschickt, die man HIER anhören kann.
Die 600seitige „Black Metal Bible“ von 1998 war das letzte journalistische Erzeugnis, sein subjektiver Stil brachte viele an die Grenzen ihrer Toleranz, keines der „Heavy Metal Lexika“ war so umstritten.
Die Bände sind heute noch gebraucht erhältlich, man sollte aber damit rechnen,  die damaligen 24,80 heute  in Euro ausgeben zu müssen und dafür ein nicht mehr ganz frisches Exemplar zu bekommen.

Man weiß nicht viel darüber, was Matthias Herr in den einundreißig Jahren vor dem ersten Band des „Heavy Metal Lexikons“ gemacht hat, noch weniger weiß man, was nach der „Black Metal Bible“ geschah; ein zweiter Teil war angekündigt worden, erschien aber nie. Hatte er nach den heftigen Reaktionen auf sein letztes Werk die Lust verloren, weitere Bücher zu veröffentlichen, hatte er genug  von „zweifelhaften und dubiosen Entwicklungen in einer Branche, in der es scheinbar wenig Gerechtigkeit gibt, Trends kreiert, Gruppen hochgejubelt werden, um sie genauso schnell wieder fallenzulassen“ (Backcover-Text von Band 5)? In den Internetforen wird bis heute darüber spekuliert, wie jemand so vollständig von der Bildfläche verschwinden konnte. Es gab wilde Gerüchte, die teils von den Moderatoren gelöscht wurden.

Im April 2003 hatte ich vorsichtig per Brief bei Matthias angefragt, ob er bereit wäre, mit uns ein schriftliches Interview zu führen, und wenige Wochen später schrieb Matthias auf der Rückseite einer Faltanleitung der IKEA-Zeitungssammelbox „Flyt“ zurück, dass er gern für ein Interview zur Verfügung stehe und wir ihm einfach die Fragen schicken sollten. Mit dieser Antwort hatten wir gar nicht gerechnet, und so dauerte es etwas, bis wir ihm im Juli einundzwanzig Fragen zu den Heavy-Metal-Lexika, seinen Plänen und seinen heutigen Ansichten zur Musik, Kunst and the everflow zusammen mit einer CD mit den Seiten des „zine with no name“ nach Berlin in die Hannemannstr. 1 schickten. Es kam keine Antwort. Im Oktober fragte ich per Brief nach – keine Reaktion. Damit war’s das erstmal für uns. Ich war nicht verärgert, es kann wichtigere Dinge im Leben geben, als Interviewfragen per Brief zu beantworten, und ich kannte die Lebensumstände von Matthias nicht.
Trotzdem probierte ich es drei Jahre später, im Juni 2006, noch einmal unter der bekannten Adresse. Dieser Brief kam als unzustellbar zurück; irgendwann in der Zwischenzeit musste Matthias umgezogen sein.

Zehn Jahre sind seit seitdem vergangen, immer noch frage ich bei Treffen mit alten Heavy-Metal-Fans oder Leuten aus der damaligen Fanzine-Szene, ob sie etwas Neues von Matthias Herr wissen. Bedauerndes Kopfschütteln.
Sitzt er also in einer Holzhütte auf der Mecklenburgischen Seenplatte und schreibt an Band 10 seines „Heavy Metal Lexikons“, auf den Tag wartend, an dem die Zeit reif für die Nachfolger seiner einzigartigen Bücher ist?

Egal, was du heute machst, Matthias: Wenn du dich zu dem äußern willst, was die letzten achtzehn Jahre passiert ist, schreib uns! Wir werden dein Statement hier veröffentlichen. Verwende unsere Postadresse im Impressum, und schreibe bitte zumindest einen Teil mit der Hand, damit wir einigermaßen sicher sein können, dass der Brief nicht gefälscht ist. Vielleicht erinnerst du dich auch noch daran, welche LP du mir vor ca. 25 Jahren auf Kassette überspielt hast ;-).
Es gibt immer noch viele Fans deiner Bücher!

– Martin – 03/2016

Update 26.05.2016: Matthias Herr lebt! Auf unsere schriftliche Interview-Anfrage Ende März  hat er jedoch bis heute nicht geantwortet. Wir respektieren das.

16 Kommentare

  1. In Ihrem Artikel steht u.a.:
    „Dass Matthias Herr Mitte der 90er Jahre die Radio-Sendung „Tendenz Hard bis Heavy“ bei MDR Sputnik in Nachfolge von Matthias Hopke moderierte, ist nicht endgültig belegt“.

    Also ich kann seine Moderation bei „Tendenz Hard bis Heavy“ bestätigen (zumindestens 1995/1996), da ich als Wessie in den Genuß kam, diese Sendung dank des digitalen Radios meines Vaters zu empfangen. Diese fand immer Mittwochs von 21 – 23 Uhr statt, und ich habe sie als Teenager im Zeitraum zwischen Frühjahr 1995 bis Mitte/Ende 1996 häufig gehört und sehr viele Mittschnitte auf Kassette überspielt, dank der CD-Qualität der Übertragung auch noch in einer guten Qualität. Mit entsprechenden 90er-Kassetten habe ich nicht die ganze Sendung aufgenommen, sondern Zeitabschnitte, bis mir manche Lieder nicht gefallen haben und ich dann gewartet habe mit der weiteren Aufnahme. Die Kassetten habe ich immer noch, und Matthias Herrs Ansagen sind meistens auch drauf. Er hat immer am Anfang der Sendung seinen Namen genannt und seine charismatische Stimme war unverwechselbar. Vorallem fand ich das Musikspektrum interessant. Von The Clash bishin zu Black Metal (Emperor, Dimmu Borgir, Mayhem, usw.) war alles dabei. Auch „der nette Mann“ von Böhse Onkelz wurde abgespielt, welches damals ja noch auf dem Index stand.
    Ich meine mich auch daran zu erinnern, dass einmal im Monat die Metal-Charts im Rock Hard (oder Metal Hammer, das weiß ich leider nicht mehr), diese habe ich aber nicht aufgenommen.
    Diese Sendung hat mir die entscheidende – ja schon fast schicksalhafter – Wegweiser bestimmter Metal-Richtungen gegeben, die ich heute nach wie vor höre und die mich geprägt haben. Hätte mein Vater als Musikliebhaber das digitale Radio nicht gekauft, hätte ich viele Sachen nicht kennengelernt. Manchmal waren Herrs Ansagen auch lustig, da Matthias manche Bandnamen falsch aussprach, wie z.B. Emperor [Äm-pie-ror] oder komische Sprüche gelassen hat.
    Übrigens wurde auch in seiner Sendung Songs von Rammstein präsentiert (vom Album Herzeleid), bevor diese dann weltberühmt wurden.

    Falls Sie für Ihren Artikel den Beleg seiner Moderation haben möchten, suche ich Ihnen gerne die Kassetten raus und schicke Ihnen die Audiofiles, wo seine Ansagen zu hören sind. Dies kann aber einige Zeit in Anspruch nehmen, da ich meinen alten Kassettenrekorder nicht mehr habe und ein Gerät organisieren muss.
    Anderseits müsste aber auch der MDR bestätigen können, dass er dort die Sendung moderiert hat.
    Viele Grüße aus Mainz

    Johannes

    1. Hallo Johannes (ich sag jetzt mal du),
      danke für deinen ausführlichen Hinweis!
      Ein paar kleine Audiofiles mit Anmoderationen wären sehr cool – ich würde sie dann hier veröffentlichen.

  2. Auch im noch anhaltenden Corona Zeitalter lese ich hin und wieder noch die Bücher von Matthias Herr..ich fand seinen Schreibstil großartig…Hoffe es geht Ihm gut…er wird so oder so einen ganz besonderen Stellenwert in der schreibende Zunft des Heavy Metals haben…

  3. Der Ur-Vater der „Tendenz Hard bis Heavy“ [Matthias Hopke – die Red.] wird am Sonnabend, 22.05.2021 beigesetzt.
    djgrammophon.de

    Bitte nie wieder mit M. Herr verwechseln.

      1. @Martin Bin mir ganz sicher, dass er das nicht gemacht hat, er moderierte eine Sendung auf MDR / Sputnik oder so und hat mir da mal Mitschnitte geschickt. Im Berliner Raum zu empfangen war die Sendung nicht.

        1. Doch, er hat die Sendung moderiert. Ich weiß aber tatsächlich nicht, ob er nur ein paar mal eingesprungen ist oder dauerhaft im Wechsel oder Nachfolger war. Man konnte die Sendung in Berlin via Kabelradio empfangen (was natürlich außer mir kaum jemand gemacht hat). Damals eine schöne Ergänzung zum Stahlwerk. RIP M. Hopke!

  4. Würde gern wissen, was er heute macht! Ja, er war streitbar, ich habe zu Zeiten meines Fanzines United Forces auch ein wenig „Korrespondenz“ mit ihm gehabt. Weiß gar nicht mehr, um was es ging, aber wir waren unterschiedlicher Meinung. Irgendwann bekam ich ein Paket mit der CJSS Schallplatte „World Gone Mad“, Absender Matthias Herr. Ich hatte irgendwann mal erwähnt, dass mir diese Scheibe noch fehlte. Ich rief ihn daraufhin an und fragte, was das solle? Da meinte er nur, er hätte das gelesen und hätte die doppelt und er wolle mir eine Freude machen. Seitdem hat er bei mir einen Stein im Brett, auch wenn ich viele seiner Meinungen nicht teile – aber dass muss auch gar nicht sein. Ich wünsche ihm, dass er gesund ist und sein Leben genießen kann!

  5. In den 1990ern bis nach der BM Bible war ich mit Matthias gut bekumpelt, dann verloren wir uns lange aus den Augen.
    Um 2009 oder 2010 traf ich ihn völlig unerwartet in Berlin wieder, wir haben uns gut unterhalten.
    Er plant kein weiteres Buch, hörte aber auch kaum noch Metal und hatte meiner Meinung nach seriöse Probleme anderer Art.
    Mittlerweile wurde er aber auch wieder bei Metal / Hard Rock Konzerten gesehen (House of Lords), hoffentlich geht es wieder bergan.
    Die massive Kritik an der BM Bible war übrigens einer der Punkte, weshalb es kein weiteres Buch gibt. Er war nicht eingeschnappt, nur der Meinung, dass seine Bücher nicht mehr gefragt wären.

  6. ein [beleidigung gelöscht], der, sobald eine band inhaltlich mal nicht seinem kleingeistigen weltbild entsparch, seine publikationen dafür nutzte, allmachtsfantasien auszuleben und die betroffenen bands so richtig niederzumachen. und sich dabei selbst als Conan der musikkritik hochzustilisieren. natürlich ohne jemanden jemals direkt zu konfrontieren, denn eier hatte er nur als troll, am schreibtisch zuhause.

    [Kommentar trotz grenzwertiger Ausdrücke freigegeben – Martin]

  7. Schade, schade…
    GROSSARTIGER Schreiber – der Begleiter meiner Jugend!
    Das der Gute am Leben ist freut mich ungemein.
    @Matthias: DANKE!

    Grüße,

    Axel.

  8. Hallo Sanijo,
    danke für die Infos zu Matthias‘ Tätigkeit beim MDR!
    Ich habe da auch noch einmal recherchiert. Manche hatten angenommen, es wäre eine Namensverwechslung gewesen und Matthias Hopke hätte „Tendenz Hard bis Heavy“ moderiert (Quelle: http://www.sacredmetal.de/board/viewtopic.php?f=6&t=1204&sid=64a2bf64da939401d5235382b6edd51a&start=45#p414569).
    Jedoch hat dieser im Frühjahr 1994 MDR Sputnik verlassen (Quelle: http://www.radioforen.de/index.php?threads/die-letzten-30-minuten-von-dt64-auf-ukw-am-30-06-1992.33904/page-3 – Beitrag #55).
    Ich habe das im Text oben geändert.

    – Martin –

  9. Auch ich hatte M. Herr ca. 1996 versucht zu Interviewen. Erfolglos, obwohl er mir viermal telefonisch zusagte. Das mit der Moderation stimmt aber, die Sendung hieß „Tendenz Hard bis Heavy“ und wurde vom MDR Sputnik übertragen. Ich habe sie über Satellit empfangen, eine Sendung müßte ich noch auf VHS Kassette haben. Da ich ihn telefonisch erreicht habe, ich ihn auch auf die Sendung angesprochen da er Rigor Mortis (Texas) spielte und ich ihn fragte wo ich die Platte kaufen könne, er nannte mir ein paar Läden in Berlin wo ich das Vinyl auch bekam. Er sagte auch das es die letzten Sendungen sein werden.

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